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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2005

...Intendant Paul Esterhazy, der fünf Jahre lang alle kreativen Kräfte gebündelt hatte gegen den allgemeinen Trend zur entertainementmäßigen Niveauabsenkung, gab auf und geht. Zum Abschied brachte er noch einmal eine Opern-Uraufführung am Großen Haus heraus – die letzte in einer ganzen Serie von Auftragswerken, mit denen das Theater Aachen ... sich als kleines Mekka des zeitgenössischen Musiktheaters profiliert hatte: Insgesamt standen in der Ära Esterhazy elf Opern von noch lebenden Komponisten auf dem Spielplan, darunter allein sechs vom Theater in Auftrag gegebene Uraufführungen ... krönender Abschluss dieser Serie wurde nun die erste abendfüllende Oper des Minimalkomponisten Michael Gordon, Begründer und Co-Direktor der New Yorker Avantgarde-Gruppe „Bang on a can all stars“ ... mit denen er zuletzt in Dresden das Multimediaprojekt „Lost Objects“ realisiert hatte. Und wie „Lost Objects“ bezieht auch Gordons Oper „Acquanetta“ ihren unwiderstehlichen Reiz in erster Linie aus der permanenten Ekstase vital vorwärtsjagender, übereinanderkopierter metrischer Pattern: jenem Rhythmus, bei dem jeder mit muss.


Deutschlandfunk 27.06.2005

Der Aachener Intendant Paul Esterhazy hat sich zur Gewohnheit gemacht, die neuen Werke, die sein Haus präsentiert, allemal mit einer kurzen Einführung zu versehen. Das tat er auch diesmal – allerdings nicht als Vortragsredner, sondern als Hauptdarsteller eines Vorfilms: Wie Alfred Hitchcock sitzt er da in der Dämmerung im Regiestuhl. Das Gesicht ist nicht zu erkennen. Er erläutert die Hintergründe und die vordergründigeren Schichten der Produktion... Nach dem kurzen Zwischenspiel der popcorn-Verkäuferinnen dann das Hauptprogramm auf dem Gazevorhang, der als Kinoleinwand dient ... Pia Janssen baute ...ein Wartezimmer der Universal-Filmproduktion – schwarz-weiß, mit dem typischen Mobiliar und den Lampen der frühen 40er Jahre, Garderobe, Ventilator und Normaluhr, seitwärts eine Nasszelle und die gebieterische Leuchtschrift „Please wait“ über der Tür, die für keinen der fünf arbeitssuchenden Schauspieler aufgeht. Es ist Kriegs- und Depressionszeit. Virtuos bedient Regisseur Paul Esterhazy diese dritte Erzählebene ... So ergibt sich ein heiteres Spiel: Kunst über Kunst, wenn man denn diesen alten Streifen, aus dem immer wieder zitiert wird, als Kunst ansehen möchte. Im Nachhinein wird er geadelt – auch durch den Hinweis auf Menschenversuche lange vor der Zeit der Stammzellenforschung (in jenen Jahren eben, in denen auch in Konzentrationslagern entsprechende Versuche unternommen wurden.) ...


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2005

Da es sich also um eine pessimistische Story handelt über Vergänglichkeit, Missbrauch und Irrtum, die sich am besten aus der Distanz ertragen lässt, hat Regisseur Esterhazy eine Zeitreise simuliert und sein gesamtes Theater in einen alten Kinosaal verwandelt. Mit raffinierten Schatten-Licht-Effekten, falschen Spiegeln und perspektivenverrückenden Gaze-Schleiern wird das Bühnengeschehen so abgebildet, als handele es sich um einen sepiagetönten Schwarz-Weiß-Film. Und Pia Janssen, die Bühnen und Kostüme besorgte, stellt mit bewundernswürdiger Akribie lückenlos selbst noch die winzigste Kleinigkeit dieses Ambientes bereit. ... In elf sketchartigen Vexierbildern tritt die selbstzerstörerische Melancholie dieser falschen Glamourwelt immer klarer zu Tage. Alte Bekannte schauen vorbei: Marilyn Monroe lässt ihre Röcke fliegen, King Kong steigt durchs Fenster herein, der Große Diktator stolziert durchs Bild. Auf erfrischende Weise quer zu den hart und schnell geschnittenen Bilderfolgen stehen die hermetischen Blöcke der motorischen Musik... Das bestens disponierte Sinfonieorchester Aachen beweist unter der Leitung von Marcus R. Bosch sogar polyrhythmische Sattelfestigkeit. So gibt es keine leere Sekunde in diesem rauschhaft kurzweiligen Werk – furiose Stretta einer außergewöhnlich bewegten Stadttheater-Opernära. „Acquanetta“ verbreitet keine Moral und will wohl auch keine Katharsis bewirken, ist jedoch so witzig und unterhaltsam, dass es sogar als Publikumsrenner funktionieren würde ...

Frankfurter Rundschau, 17 .07.2005

> Meister sinnlicher Reduktion
Wie Paul Esterhazy in Aachen in den vergangenen Jahren anspruchsvolles Theater gemacht hat
von Stefan Keim

Mit grellen Vokalgirlanden setzt der Chor unvermittelt ein wie im Soundtrack eines Horrorfilms. Die Oper Acquanetta von Michael Gordon handelt unter anderem von einer Schauspielerin aus amerikanischen B-Movies der vierziger Jahre. Wobei das Libretto nicht gerade vor Handlung überläuft. "I am your beautiful monster" singt Acquanetta, und Gordons sonst oft ruppig-rockige minimal music wird zum Ohrwurm. Und das Monster wird ein schönes Monster mit einer erfundenen Vergangenheit.
Es geht um die Konstruktion von Identität an diesem Opernabend, um eine Frau als Projektionsfläche von Sehnsüchten, deren Persönlichkeit hinter dem Schein kaum mehr zu erkennen ist. Diese achte Musiktheater-Uraufführung ist in vieler Hinsicht typisch für die fünfjährige Intendanz von Paul Esterhazy in Aachen. Ein komplexes, konsequentes Stück, das sich dem schnellen Konsum entzieht, etwas für Liebhaber und Neugierige.
Die Sinnlichkeit der Reduktion findet sich in vielen Produktionen der Esterhazy-Zeit. In seinem Mozart-Figaro gleich zu Beginn fegte er die Bühne völlig leer. Und auch in der Zauberflöte entstanden magische Bilder auf einer freien Fläche aus spiegelnden Bodenplatten. Die Reduktion reinigt den Geist des Besuchers von der Reizüberflutung seines Alltags, auf dass dann eine neue Welt entstehen kann. In extremem Maße gilt das für die Opern von Beat Furrer und Klaus Lang, deren Musik oft am Rande der Hörbarkeit klingt, akustische Reflexionen über die Sinneswahrnehmung des Hörens selbst.

> Filigrane Kontemplation
Stille Ereignisse gab es so in Aachen zu bewundern, der Österreicher Lang verwandelte mit der handschuh des immanuel den prächtigen Aachener Dom in einen Ort filigraner Kontemplation. Man hörte den eigenen Atem, das Hemdrascheln des Nebenmanns wurde zum zufällig-geplanten Teil der Komposition.
Das andere Extrem, die Überforderung der Sinne als Stilprinzip, präsentierte Aachen mit zwei Uraufführungen des Berliner Komponisten Helmut Oehring. Blauwalddorf und Wozzeck kehrt zurück waren - inhaltlich wie musikalisch - vielfache Überschreibungen eines kaum noch zu erkennenden Originals, Irrgärten ohne Ausweg, Rätsel ohne Lösung, bei einem Theaterbesuch kaum zu begreifen. Aber es stellte sich kein Frust ein, sondern eine heitere Gelassenheit angesichts der Fülle an Ideen. Im Schauspiel hatten die Inszenierungen Christoph Ernsts einen ähnlichen Effekt, der - vor allem in Schillers Maria Stuart - originell und maßlos mit den Mitteln des Theaters experimentierte, die beiden Königinnen von einer Schauspielerin verkörpern ließ, von Deformationen und Begierden erzählte.

> Einführung als Aufführung
Solche Stücke füllen natürlich nicht die Kassen, aber der promovierte Jurist Esterhazy ist alles andere als ein Traumtänzer. Die Risiken hat er genau einkalkuliert, seine finanziellen Vorgaben eingehalten und es trotzdem geschafft, mit innovativen Spielplänen überregionale Aufmerksamkeit auf das Theater Aachen zu lenken. Das Sinfonieorchester hat mit dem dynamischen Generalmusikdirektor Marcus R. Bosch einen satten Aufschwung genommen, der Opernchor meistert schwierige zeitgenössische Partituren inzwischen mit großer Souveränität.
Und Esterhazy hat, um die Uraufführungen möglichst vielen Leuten nahe zu bringen, eine neue Theaterform erfunden. Die Einführungen waren in die Aufführung integriert, man konnte ihnen nicht entkommen. Bis zu 20 Minuten ließ sich Esterhazy Zeit, um mit Klangbeispielen des Orchesters die ästhetischen und inhaltlichen Ansätze zu erklären, dem Publikum Perspektiven zu öffnen ohne einer Interpretation vorzugreifen. Vor Michael Gordons Acquanetta war der Intendant - passend zum Thema dieser Kino-Oper - auf einer Leinwand im Stile von Hollywoodregisseuren wie Orson Welles oder Alfred Hitchcock zu sehen. Einführungen in so einem solch spielerischen, selbstironischen Stil könnten Vorbilder für andere Häuser werden.
Es gab auch viel Krach um das Theater Aachen - künstlerischen zum einen, weil Zuschauer mit einigen Inszenierungen nicht einverstanden waren. Vor allem aber über die auch anderswo umstrittene Regisseurin Barbara Beyer ergoss sich der Volkszorn, als sie die lange nicht mehr gespielte Stumme von Portici völlig auseinander nahm und als bürgerliche Perversitätenparade inszenierte. In den grellen Effekten lag viel Traurigkeit, Beyer setzte sich sehr ernsthaft mit Aubers Oper auseinander. Aber es ist auch die Enttäuschung vieler Besucher zu verstehen, die endlich ein ehemals populäres und heute aus den Spielplänen geflogenes Stück für sich entdecken wollten.
Auch politisch donnerte es rund um das Theater. Absurde Sparpläne konnten Esterhazy und sein Team noch abwenden, doch Indiskretionen und Intrigen erschwerten die Arbeit zusätzlich. Schließlich verzichtete Esterhazy auf eine Verlängerung, bis heute will er sich über die Hintergründe im einzelnen nicht äußern. Tatsache ist, dass er das Aachener Theater nach einer platt-populistischen, musicalorientierten Phase zu einem der innovativsten städtischen Bühnen gemacht hat, ohne jemals seinen Etat zu überschreiten.

> Präziser Drive
Welches Niveau Aachen hervor bringen kann, zeigt jetzt noch einmal die Abschluss-Uraufführung Acquanetta. Das Sinfonieorchester spielt Michael Gordons treibende, delirierende minimal music mit absoluter Präzision und viel Drive. Die Sänger sind darstellerisch wie stimmlich sehr präsent, und aus dem kargen Textbuch haben Regisseur Esterhazy und die Ausstatterin Pia Janssen eine überzeugende Inszenierung gewonnen. Sie zeigen wartende Schauspieler im Vorzimmer eines Hollywood-Tycoons der vierziger Jahre und entwickeln Spiele mit Masken und Spiegeln zwischen Absurdität und Psycho-Horror. In ihrer bekanntesten Filmszene (aus Edward Dmytryks Captive Wild Woman) wird die Schauspielerin Acquanetta von einer Äffin zu einer Frau und wieder zurück verwandelt. Die Kinoausschnitte werden in Bühnenaktion übergeblendet, und die Mutation wird zum Sinnbild der Entwürdigung des Menschen aus eigenem Antrieb.
Ein böser, komischer und abgründiger Kommentar am Ende einer erfolgreichen Theaterzeit.