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Welt am Sonntag

"Die Tote Stadt" in der Regie von Paul Esterhazy nominiert als Beste Musiktheaterinszenierung 2007 in NRW (Kritikerumfrage )


Rheinischer Merkur, 17. 04. 2007

...Noch kleinbürgerlicher und sammelwütiger als in Rodenbachs symbolistisch-psychologischem Roman „Bruges-la-Morte“ von 1892 fällt der Herr Paul in Paul Esterhazys Inszenierung aus. Pia Janssens Ausstattung zwängt ihn zwischen Nippes und Devotionalien, so wie er die Tänzerin Marietta in die Rolle seiner verstorbenen Frau Maria zwingen will. Im bedrückenden 60er-Jahre-Ambiente gehen Realitätsebene und Traumes Wirren brillant durcheinander, am Ende tut sich kein Weg in die Freiheit auf...


taz-NRW, 23. 04 . 2007

... Erinnerungsträchtige Gegenstände, wohin man blickt: Mobiliar, Frisuren und Klamotten in der vollgestopften Wohnung des Herrn Paul, um dessen Erinnerungen und Obsessionen es geht, siedeln die Geschichte in den 50er oder 60er Jahren an. Man sieht den Mief förmlich. Pia Janssen, die Ausstatterin, schuf mit Liebe zum Detail eine vor Devotionalien überbordende „Kirche des Gewe­senen““: Nicht nur das vor blauem Hintergrund leuchtende (und zeitweise zum Leben erwachende) Portrait erinnert an die aus dem Leben geschiedene Ehefrau – eine nazarenische Marien-Darstellung.
Alles ist hier im Andenken an Maria erstarrt: Die unverändert postierten Sessel, die überreichliche Bebilderung an den Wänden, Geschirr und Gläser auf dem Bord, jeder Handgriff in diesem „Tempel der Erinnerung“ künden von Verklärung und Heiligen­verehrung. Wie viel Zeit seit dem offensichtlich schweren Schicksalsschlag vergan­gen sein mag, bleibt offen. Waren es nur ein paar Tage? Eher dürfte es sich um Wo­chen, Monate oder gar Jahre handeln. Paul Esterhazy ließ den Protagonisten Dario Walendowski ... als frühzeitig gealterten Mann ausstaffieren und agieren. Freund Frank sucht Monsieur Paul zum Wiedereintritt ins Leben zu bewegen. Tatsächlich begegnet er Marietta, die der verstorbenen Maria so verblüffend ähnelt. Die lebens­lustige junge Varieté-Tänzerin lässt sich, ohne von anderen Umgangsgewohnheiten Abstand zu nehmen, auf den alten Griesgram ein. Zunächst unwillkürlich, dann ab­sichtsvoll tritt sie in Konkurrenz zur übermächtigen Toten in Pauls Kopf. In diesem Gehirn findet Übertragung statt; rasch regen sich dort freilich auch Schuldgefühle, religiöse und mörderische Phantasien.
Die eigentlich vor Pauls Haus vorbeiziehende festliche Prozession siedelte Esterhazy – wie zuvor schon die Fete der Künstler – im Hintergrund der Wohnung an – und der Hausherr setzt sich im Priesterornat an die Spitze. Das fordert Mariettas Spott her­aus. Da sie in frivoler Weise mit dem Haar der toten Maria, der wertvollsten Reliquie, zu spielen beginnt, erwürgt er sie auf dem Sofa. Doch die Zuschauer können und sollen keine Gewissheit erlangen: Ist das vielleicht nur ein Alptraum? Taucht Marietta tatsächlich noch einmal leibhaftig auf und fragt nach ihrem vergessenen Parapluie? Oder ist das Tötungsdelikt doch die krude Wirklichkeit und die fleischliche Auferste­hung der jungen Schönen mit der Stimme ... von Dagmar Hesse in der toten Welt schierer Wunschtraum?
Das Verwirrspiel zwischen Phantasiegespinsten und Wirklichkeits-Ebenen nimmt in der neuen Inszenierung eine Wendung, die vom positiv verheißungsvollen Schluss des Korngoldschen Originals deutlich abweicht: Herrn Pauls Haushälterin kehrt als Amtsärztin zurück und der vielleicht ein bisschen untreue Freund Frank ... als Strei­fenbeamter. Die beiden Sanitäter in ihrem Gefolge müssen jedenfalls zwei Leichen wegschaffen: Mariettas Double, liegen geblieben vorm Kanapee, und einen all die Zeit unter der Bettdecke gelagerten Körper im dritten Frischegrad. Der Weg aus der „toten Stadt“ in eine neue Freiheit ist in diesem Fall wohl der in eine geschlossene Anstalt. Mit der gleichen subtilen Schärfe, mir der Paul Esterhazy 2003 in Aachen Webers „Freischütz“ in einem Berliner Salon des Uraufführungsjahrs 1821 insze­nierte, zeigt er nun die Zwanghaftigkeit eines Mannes, dem die Zeit in den 60er Jah­ren stehen geblieben ist: einen, der zwar noch einmal aufbrechen will, aber durchs Würgen schließlich wieder zu seinem trostlosen Zustand gelangt...


WAZ, 21. 04. 2007

...Dass der Regisseur dieses spätromantische Meisterwerk eines Früh- wie Höchstbegabten zum Kammerspiel des Wahnsinns macht, ist wirk­lich aufregend. ... Wir schauen in ein seltsam schäbiges Wohnzimmer, in dem das Gemälde spricht, durch das eine Prozession und Nonnen ziehen. Ein Wohnzimmer - spießig, eng. Von Pia Janssen als Bild einer wunden Seele bitterböse entworfen und von Esterhazy zum Gedankenraum erweitert. Psychoanalytisch seziert der Regisseur die Figur des Verwirrten, dem der stimmstarke Tenor Dario Walendowski ganz be­sonders in der Prozessionsszene, in der Paul sich als geistliches Oberhaupt sieht, beängstigende Momente verleiht. Und Marie/Marietta ist hier eine Projektionsfigur, ein Hirngespinst. Kühl. Zerstörerisch. Auch böse. Dagmar Hesse singt das strahlend mit großer Intensität...


Westfälischer Anzeiger, 16. April 2007

...Der „Master of Suspense“ hätte sicher seine Freude daran gehabt. Regisseur Paul Esterhazy bringt nach fast 80 Jahren wieder die Korngold-Oper „Die tote Stadt“ auf die Bühne des Theaters Hagen und tut dies als Thriller à la Hitchcock. Esterhazy bedient sich dabei vieler Film-Zitate und arbeitet sogar mit den filmi­schen Mitteln des Kino-Altmeisters. Esterhazys „Tote Stadt“ fesselt mit Hitchcock-typischer Suspense-Spannung, auch für Kenner der Oper überraschenden Wendungen und – auch das hätte dem alten Hitchcock sicher gefallen – amüsiert auf intelligente Art mit einem gruse­lig humorvollen Schluss. Aber wie lässt sich eine filmische Bildersprache, die kleine Aus­schnitte des Geschehens zeigt, auf einer offenen Theaterbühne realisieren? Esterhazys Lö­sung ist überraschend einfach und wirkungsvoll. Er reduziert das Grundlicht auf der Bühne auf ein Minimum und lenkt den Blick des Publikums über Zusatzlichter. Auch die Personen­führung passt zum Hitchcock-Stil: Niemals gibt es unnötiges Gewusel am Rande, die Dar­steller agieren äußerst ökonomisch, jede Bewegung hat ihren Sinn – auch die der Dreh­bühne, die sich ständig ganz leicht hin und her bewegt und die verzerrte Wahrnehmung des wahnhaften Protagonisten verdeutlicht. Ebenso durchdacht ist der Dekor von Pia Janssen, die mit Akribie ein vollgestopftes 1950er-Jahre-Wohnzimmer entwirft. Hier hat sich ein alter Wunderling seit Jahrzehnten verschanzt. Protagonist Paul betrauert darin in völliger Isolation den Tod seiner großen Liebe Marie, bis Marietta auftaucht, eine Tänzerin, die Marie extrem ähnlich sieht. Das Libretto von Komponist Wolfgang Korngold und seinem Vater Julius nach einem Roman von Georges Rodenbach erinnert stark an Hitchcocks Filmklassiker „Vertigo“, die Situation des von der Außenwelt isolierten Mannes auch an „Psycho“. Beides greift Esterhazy auf, lässt die Sopranistin Dagmar Hesse gar im gleichen Kostüm auftreten wie Kim Novak im Film. Esterhazy hat das Glück, mit dem Tenor Dario Walendowski (Paul) und der Sopranistin Dagmar Hesse (Marie/Marietta) über zwei Hauptdarsteller zu verfügen, die seine Ideen nicht nur umsetzen können, sondern ihre anspruchsvollen Partien auch über­zeugend singen. Überhaupt ziehen hier Regisseur und Dirigent Antony Hermus spürbar an einem Strang: Der Regisseur vermeidet strikt nervtötende Rampengesänge, der GMD achtet darauf, dass Passagen, die in die Bühne hinein gesungen werden, akustisch nicht unterge­hen. Das Problem orchestraler Übermacht, das es oft im kleinen Hagener Theater gibt, tritt trotz großer Besetzung erfreulich selten auf. Zu verdanken ist dies der stimmlichen Präsenz der Sänger, aber auch dem Fingerspitzengefühl des Dirigenten. Paul Esterhazy gilt als Mann, der es versteht, kleine Theater über ihre Stadtgrenzen hinaus ins Gespräch zu brin­gen. Als Intendant in Aachen hat er das bewiesen. Mit seiner „Toten Stadt“ erweist er viel­leicht auch Hagen einen solchen Dienst. Mit solchen Inszenierungen lassen sich auch The­aterfreunde begeistern, die sonst die Oper eher meiden. Das Potenzial zu einem echten Publikumsrenner ist in jedem Fall vorhanden...

WDR3 „Mosaik“, 16. 04. 2007

...Insgesamt ist die Inszenierung sehr gut, sehr minutiös und sehr genau und scharf gelungen. ... Man hat in Hagen sehr große Sorgfalt auf die Vorbereitung dieser Produktion gelegt, mit großer Präzi­sion gearbeitet. Und ich muss sagen: Das ganze Stück ist ein Plädoyer für das deutsche Stadttheater - dass es zu solchen Produktionen fähig ist und auf diesem Niveau eine solch schwierige Geschichte so fulminant darstellen kann.


Neue Ruhr Zeitung, 17. 04. 2007

...Sehenswert, was Regisseur Paul Esterhazy, einst In­tendant in Aachen, da zu bieten hat. Die Handlung animierte schon Günter Krämer vor 20 Jahren in Düsseldorf, später in Köln und Spoleto, zu Anspielungen auf Hitchcocks Psycho-Thriller. Esterhazy verfeinert die Anzüglichkeiten durch einen raffinierten Zitaten-Katalog vor allem aus „Vertigo“ und „Psycho“. Erstaunlich, dass kaum etwas aufgesetzt wirkt. ... Zu­sammen mit der Bühnenbildnerin Pia Janssen verlegt Esterhazy die gesamte Handlung in die Wohnstube Pauls. Ein biederer Salon, angefüllt mit Brügger Spitze, Delfter Wandtellern und etlichen Reliquien der Toten. Die Fantasien Pauls bleiben darstellerisch angedeutet, werden aber umso eindringlicher durch geschickte Lichteffekte unterstrichen. Insgesamt eine Produktion, die selbst an größeren Häusern Bestand haben könnte...


Onruhr.de, 16. 04. 2007

Die hervorragende Arbeit von Antony Hermus (musikalische Lei­tung), Paul Esterhazy (Regie) und Pia Janssen (Ausstattung) in Hagen bietet eine willkom­mene Gelegenheit, Korngolds romantisches Meisterwerk zu erleben. ... Dario Walendowski macht mit expressivem Schimmer in der Stimme Pauls Sehnsüchte und Obsessionen nach­fühlbar. Dagmar Hesse singt als reine Maria klar und schnörkellos, als sprunghafte Marietta wunderbar flexibel. ... Peter Schöne gestaltet »Pierrots Lied« zum melodiös-gefühlvollen Kleinod aus. Insgesamt erweisen sich alle Beteiligten, insbesondere die Hagener Philharmo­niker, als überzeugende Anwälte des üppigen, ungewöhnlich eingefärbten Korngold-Sounds.


Westfälische Rundschau, 16. 04. 2007

...Gastregisseur Paul Esterhazy inszeniert das Stück im Stile eines Krimis à la Hitchcock. Inspiriert hat ihn dabei vor allem dessen Film „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (1958). Esterhazy setzt auf der Bühne filmische Mittel ein: gleichzeitige Handlungsebenen, harten Schnitt, Lichteffekte und Schattenspiele. Alles spielt sich in einem Raum ab (Ausstattung: Pia Janssen), in dem Realität und Wahn ver­schwimmen wie in Pauls Wahrnehmung der Welt. ... In Dagmar Hesse (Marie/Marietta) und Dario Walendowski (Paul) stehen dem Regisseur zwei hervorragende Darsteller zur Verfü­gung. Dagmar Hesse verbindet facettenreiches Spiel mit ausdrucksvollem Gesang. Dario Walendowski beeindruckt mit seiner Darstellung eines Menschen, der immer tiefer ins Irrati­onale gerät. ... Die durchkomponierte, voluminös instrumentierte Musik hat Klangeffekte von bombastischer Wucht und erinnert vielfach an Puccini oder Strauss. Das Philharmonische Orchester unter der Leitung von GMD Antony Hermus stellte sich der enormen Herausforde­rung mit effektvoller Bravour...


Westfalenpost, 16. 04. 2007

...Das Theater Hagen zeigt Erich Wolfgang Korngolds selten gespielte „Tote Stadt“ jetzt als nekrophilen Psychothriller. Mit Bravo-Rufen und Beifall im Stehen feierte das Publikum bei der Premiere ein hrvorragendes Sängerensemble. ... Paul Esterhazy interpretiert die Besessenheit Pauls nicht nur als geistigen Zustand, sondern auch als körperlichen, als Nekrophilie. Zusammen mit Bühnenbildnerin Pia Janssen hat er einen klaustrophobischen Einheitsraum entwickelt, ein Zimmer, das mit katholischen Devotionalien ebenso vollgestopft ist wie mit teils ekelhaften körperlichen Andenken an die Tote. Paul fin­det das normal, schließlich ist es bei den Katholiken nicht ungewöhnlich, materielle Über­reste der Heiligen zu verehren, und Brügge, wo das Heilige Blut aufbewahrt wird, ist ein Zentrum des Reliquienkultes. So schwankt Paul, und die Drehbühne schwankt mit ihm, zwi­schen Lust- und Angst-Phantasien und geht am Konflikt des Mannes zugrunde, der Frauen in Heilige und Huren aufspaltet und deshalb nicht mit ihnen und nicht ohne sie leben kann. Am Ende liegt Marietta erwürgt auf dem Boden, und der mumifizierte Leichnam von Marie wird hinausgetragen...

Domradio, 24. April 2007

...Die Hagener Inszenierung kommt wie ein einziges spannendes Bilderrätsel daher. Das gilt nicht nur für die Reliquien im Hintergrund. Das Licht erhellt den Raum oft nur punktuell, die Handlungsstränge überlagern sich wie Traum und Wirklichkeit, und das Bild als Ganzes, die Realität droht zu entgleiten, wenn die Drehbühne zu schwingen beginnt. Drehschwindel heißt auf Englisch Vertigo, genau so betitelte Hitchcock einen seiner Filme, durch den sich Regisseur Esterhazy ebenfalls inspirieren ließ. Auch in diesem Film glaubt ein Mann in einer Frau seine tote Geliebte zu sehen. ... Die Inszenierung der „toten Stadt“ in Hagen hat oft eine große Sogwirkung. Die Bilder ziehen die Zuschauer in ihren Bann, so wenn die Künstlertruppe um die Tänzerin Marietta eine Wiederauferstehungsszene nachspielt.