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∨ Die Welt, 02. 08. 2005
So geht Stadttheater: Zum Ende der Ära Paul Esterhazy in Aachen
von Stefan Keim

Der Mann auf der Leinwand ist ein Schatten. Selten sieht man sein Gesicht, dafür die Hände, die Zigarre, die Silhouette. Im Stil großer Hollywoodregisseure wie Orson Welles oder Alfred Hitchcock inszeniert sich Paul Esterhazy im Vorfilm seiner letzten Opernuraufführung am Theater Aachen. Es geht um die B-Movie-Queen Acquanetta, die in den vierziger Jahren in seltsamen Horror- und Abenteuerfilmen spielte und in den USA eine beachtliche Fangemeinde hat. Die Einführung in zeitgenössische Stücke war bei Esterhazy immer Teil der Aufführung. Diesmal auch, nur daß der Intendant und Regisseur nicht direkt zum Publikum sprach, sondern von einer Leinwand. Was auf DVDs unter der Rubrik "Making of" läuft, funktioniert auch im Theater. Fotos, Interviews, Probenausschnitte mit dem Orchester geben einen spannenden Einblick in die Arbeit am Stück.

Die Kommunikation spielte eine große Rolle in Paul Esterhazys Zeit am Theater Aachen. Acht Opernuraufführungen hat er in fünf Jahren herausgebracht, das macht ihm so schnell kein deutsches Stadttheater nach. Die Komponisten gehören zu den interessantesten ihrer Zunft: Helmut Oehring mit seinen vielschichtigen musikalischen Irrgärten, Beat Furrer und Klaus Lang mit ihren stillen, poetischen Reisen an die Grenze des Hörbaren. Vor allem der Österreicher Lang bleibt mit seinem "handschuh des immanuel", der im prächtigen Aachener Dom fragile Klangnischen schuf, in gutem Gedächtnis. Die Aachener nahmen die neuen Stücke an, nicht in Massen, aber ausreichend, um Aufführungsserien von sechs bis acht Vorstellungen möglich zu machen. Der promovierte Jurist Esterhazy hat das Risiko seiner mutigen Spielpläne immer genau kalkuliert, Etatprobleme hatte er nie. Es sei denn, die Lokalpolitik quälte ihn mit absurden Sparfantasien.

Nach dem Musicalpopulismus seines gescheiterten Vorgängers Elmar Ottenthal hat Paul Esterhazy Aachen als Theaterstadt neu entdeckt. Und den Zuschauern einiges zugemutet. Auf die auch anderswo umstrittene Regisseurin Barbara Beyer gab es wütende und sogar verletzende Reaktionen. Schauspieldirektor Michael Helle selbst stand für ein durchdachtes, klares, zeitkritisches Theater. Für die Rauschzustände holte er sich Regisseure wie Uwe-Dag Berlin, einen Weggefährten Leander Haußmanns, der viel spontanen Punkergeist mitbrachte und zugleich das Zaubern lernte. Das Anfangsbild von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" brachte das Stück und den Kampf eines Arbeitslosen um seine Würde auf den Punkt: Willy Loman rannte gegen die Drehbühne an wie ein Hamster im Laufrad. Trotz aller Mühen kam er nicht von der Stelle.

Unter dem neuen Generalmusikdirektor Marcus R. Bosch entwickelte sich das Sinfonieorchester zu einem außergewöhnlichen Ensemble. Fast in jedem Konzert steht ein Werk des 20. oder 21. Jahrhunderts auf dem Programm. Auch der zuvor völlig vernachlässigte Chor nahm einen gewaltigen Aufschwung. Keine komplizierte zeitgenössische Partitur bereitet den Sängern heute noch größere Probleme. Aachen ist in den vergangenen fünf Jahren zu einer Theater- und Musikstadt geworden, die den größeren Bühnen in Köln und Düsseldorf manchmal den Rang ablief.

Warum geht Paul Esterhazy? Er sagt selbst, fünf Jahre seien genug. Über die Kämpfe, Intrigen und Verletzungen will er nicht reden. In Aachen wurde während einer panikartigen Spardebatte mit Schmutz geworfen, der Intendant hatte schließlich keine Lust mehr, sich im Dauergezänk aufzureiben. Sein Nachfolger Michael Schmitz-Aufterbeck kommt vom ebenfalls innovativen Luzerner Opernhaus. Er will Esterhazys Erbe mit etwas mehr Zugeständnissen an den konservativen Geschmack fortführen und hat immerhin für seine erste Spielzeit John Cages "Europeras" im großen Haus angekündigt. Die Intendanz Paul Esterhazys wird als eine Zeit in Erinnerung bleiben, in der ein Theater versuchte, an die Tradition des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, als die Uraufführung der Regelfall und die Repertoireoper die Ausnahme war.

Ihr Niveau bewies die Bühne am Schluß noch einmal mit der „Acquanetta". Michael Gordons minimal music gleitet nicht ins Süffig-Romantische wie oft die von Phil Glass, sondern hat einen rauen, rockigen Tonfall mit grellen Chören und unsentimentalen Ariosi.