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 In der Sprache des Thrillers

Produktionsdramaturg Bernd Krispin im Gespräch mit Paul Esterhazy über die Grazer Erstaufführung von „Luisa Miller“.

B. K.: Der aus einer traditionsreichen neapolitanischen Theaterfamilie stammende Salvadore Cammarano schreibt als Schauplatz von „Luisa Miller“ ein Tiroler Bergdorf im 17. Jahrhundert vor. Die Verhältnisse, von denen das Stück erzählt, sind allerdings alles andere als idyllisch. Welches Ambiente haben Sie gewählt, um „Luisa Miller“ zu präsentieren?

P. E.: Es war symptomatisch für die frühe romantische Oper in Italien, Handlungsorte – oft recht willkürlich – um eines szenischen Effekts willen in exotische Gegenden zu verlegen. So siedelte man eine Zeitlang gern Opern in einer aus der Sicht der Italiener „nördlichen“ Umgebung an: Schottland („Macbeth“, „Lucia di Lammermoor“), Schweiz („La sonnambula“) und eben auch Tirol schienen besonders geeignet für schauerromantische Wirkungen. Wir greifen in unserer Grazer Produktion diese Praxis auf und transferieren die Handlung der „Luisa Miller“ in einen protestantisch-kalten Norden um 1850, also die Zeit ihrer Entstehung. Und damit tritt uns ein Zeitgenosse und Verwandter im Geiste Verdis als Inspirationsquelle zur Seite: Charles Dickens, der große britische Romancier und Autor effektvoller Sex-and-Crime-Thriller, der wie Librettist Cammarano lustvoll und gekonnt psychologische Schwarzweißmalerei betrieb. Auch die Tatsache, dass Edgar Allan Poe, der literarische Pate der Schwarzen Romantik, zwei Monate vor der "Luisa Miller"-Uraufführung gestorben ist, war uns bewusst. Und eine Vorahnung von Robert Louis Stevensons Erzählung vom "Seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" (1886) geistert ebenfalls durch die Inszenierung.

B. K.: In fast allen seinen Opern erzählt Verdi von den konfliktgeladenen Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern. In „Luisa Miller“ haben wir gar zwei. Was verbindet Graf Walter und Miller, was trennt die beiden?

P. E.: Die auffällige Spiegelung der beiden problematischen Vater-Kind-Beziehungen stammt noch aus dem streng symmetrischen Stückaufbau der Schiller-Vorlage. Im Textbuch von „Luisa Miller“ wird der Eindruck einer Doppelfigur zweier „Überväter“ durch das Vernachlässigen des aufklärerischen Furors in „Kabale und Liebe“ sowie der in Schillers Bürgerlichem Trauerspiel so wichtigen Parallelhandlung um Lady Milford sogar noch verstärkt. In ihrer maßlosen Kindesliebe werden die Opernfiguren Miller und Walter, melodramatisch auf die Spitze getrieben, zu Archetypen von äußerster Güte und ultimativer Schlechtigkeit – was familienpsychologisch natürlich beides zu hinterfragen ist.

B. K.: Ein schreckliches Geheimnis lastet auf Graf Walter, denn er ist durch einen Mord an die Macht gekommen. Kann denn, wer so von Ängsten gepeinigt ist, überhaupt noch uneingeschränkt sein Kind lieben?

P. E.: Der im Libretto nur en passant erwähnte Mord ist ein klassischer „MacGuffin“ – um in der Sprache des Thrillers zu bleiben. Alfred Hitchcock bezeichnete damit an sich wertfreie, ja nutzlose Informationen, die nur dazu dienen, die Handlung voranzutreiben beziehungsweise plausibel zu machen. Wir haben in unserer Nacherzählung dieses namenlose Geheimnis verstärkt und konkretisiert: Vater Walter, wie übrigens auch Vater Miller, unterdrückt geheime Sehnsüchte und Begierden. Es ist die verdrängte Sexualität im zugeknöpften Protestantismus, die diesen „schrecklichen Eltern“ zu schaffen macht und sie in einen konstanten Zustand von Angst versetzt – vor sich selbst.

B. K. : Miller ist der Verehrer seiner Tochter, der sich ihr als Jäger unter dem Namen Carlo präsentiert, von Anfang an suspekt. Steckt hinter dieser Ablehnung vielleicht mehr als nur väterliche Liebe?

P. E.: Der Verdi-Regisseur muss vielleicht nicht dem Text, immer aber der Musik wörtlich folgen. Fast in jedem Takt ist nämlich deutlich, oft überdeutlich zu hören, welcher emotionaler Affekt gerade gemeint ist. Und so fällt schnell auf, dass sich die einzig wahrhaften Liebesszenen in „Luisa Miller“ zwischen Vater und Tochter ereignen. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. In diesem Sinne habe ich mir auch erlaubt, die Figurenkonstellation der Oper in einem weiteren Punkt zuzuspitzen. Miller ist in der Grazer „Luisa Miller“ ein protestantischer Pastor. (In seiner nächsten Oper „Stiffelio“ wird Verdi dann tatsächlich – zum Schrecken der Zensur – einen verheirateten Priester als tragischen Helden einführen.) Auch an dieser szenischen Konkretisierung ist aber Verdis Musik „schuld“. Überreich ist nämlich die Partitur an religiösen Assoziationen: Kirchenglocken, Anrufungen Gottes, Gebete aller Art, die allesamt wenig Sinn ergeben, wenn – wie es das Libretto tut – aus dem Schillerschen Musikus Miller ein einfacher Soldat wird.

B. K.: Luisas vermeintlicher Treuebruch enttäuscht Rodolfo so sehr, dass er Luisa zwingt, Gift zu trinken, bevor er die klärende Aussprache sucht. Warum bloß hat er ihr nicht vertraut?

P. E.: Rodolfo ist, wie Ferdinand bei Schiller, ein unreifer, unüberlegter Pubertierender. Alles, was er tut, geschieht vor allem aus Trotz – gegen den Vater: Ich behaupte sogar seine Liebe zu der als Lebenspartnerin völlig ungeeigneten Luise. Und diese – ganz unschuldiges Opferlamm – wird regelrecht zerrissen zwischen einem armseligen Liebhaber und einem eifersüchtigen Vater.

B. K.: Wiewohl Wurm der Drahtzieher der Kabale ist, hat er nicht einmal eine eigene Arie zu singen und erscheint musikalisch als Nebenfigur. Wie ist dem szenisch zu begegnen?

P. E.: Das ist wie einiges in diesem noch zwischen konventionellen und genialen Einfällen schwankenden Frühwerk den starren Besetzungsregeln der neapolitanischen Operntradition geschuldet. Leider hatte sich Verdi gegenüber seinem Textautor nicht durchsetzen können mit der Absicht einer Aufwertung dieser zweiten Bassfigur, die er gerne mit „einer gewissen Komik“ versehen hätte. In Graz wird Verdi posthum dieser Wunsch erfüllt – mit einer schillernden Teufelsfigur, die – ganz in der Tradition der Schwarzen Romantik – zur regelrechten Emanation des Bösen wird: widerwärtig, animalisch, aber in ihrer übermenschlichen Scheußlichkeit auch grotesk, ein buchstäblicher „Wurm“. (Oder eben das Monster der eigenen Begierden, dass uns, wie Mr. Hyde, aus dem Spiegel entgegen tritt.)