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Kleine Zeitung, 26.03.2017

Ein Gift namens Hoffnung – Gewagt, gewonnen: Mit „Der Zwerg“ von Alexander Zemlinsky und „Der Gefangene“ von Luigi Dallapiccola schnürt die Oper Graz einen so ungewöhnlichen wie berührenden Doppelpack.

von Michael Tschida

Ein Gift namens Hoffnung

Der spanische Hof, ein Narrenhaus. Hier hat jeder einen Tic: Die einen zucken spastisch, die anderen kratzen sich die Haut wund, wieder andere sind Geschwister von Zappelphilipp. So jedenfalls zeigt es die Produktion von „Der Zwerg“ an der Oper Graz.

Der Einakter von Alexander Zemlinsky aus 1922 frei nach Oscar Wildes „The Birthday Of The Infanta“ ist ein tragisches Märchen, in dem Prinzessin Donna Clara ein kurioses Geburtstagsgeschenk erhält: einen Zwerg aus Fleisch und Blut. Der aber will nicht bloß spaßiges Spielzeug sein und hofft auf echte Liebe der Prinzessin. Das Lachen der Höflinge missdeutet der Aussätzige als Freude und überhört den Spott dahinter, weil er glaubt, ein strahlender Held zu sein. Denn noch nie hat er sich im Spiegel gesehen. Bis er zum Narcissus der Scheußlichkeit verdammt wird.

Das Drama steuert unweigerlich auf die Katastrophe zu. Zemlinskys spätromantische Musik mit etlichen Brüchen und Aufwühlungen ist die zitternde Kompassnadel dorthin, eine tönende Traumdeutung des nahenden Albtraums für den Zwerg, dem der Tscheche Aleš Briscein mit metallischem Tenor mehr und mehr Profil verleiht. Wilfried Zelinka überzeugt als herrischer Zeremonienmeister Don Estoban. Tatjana Miyus zeigt einmal mehr ihre stimmlichen Stärken, die Hinterfotzigkeit der Infantin könnte aber deutlicher sein. Und der Wiener Paul Esterhazy setzt in seiner detailreichen Inszenierung bewusst Frage- statt Ausrufezeichen: Was ist Feind-, Trug-, Selbstbild? Sind wir alle versehrt? Verunsichert? Klein? Sind wir so, wie wir uns sehen oder die anderen?

Schlüssige Verzahnung

Esterhazys ursprüngliche Idee war es, den zweiten Einakter nahtlos anzufügen. Die Pause aber tut dem Bogen keinerlei Abbruch. Er wird so überraschend wie schlüssig weitergespannt. Mit der reduzierten, stimmigen Bühne von Mathis Neidhardt gelingt die Verzahnung mit Luigi Dallapiccolas „Der Gefangene“ aus 1949 auf verblüffende Art – das Spiel der Spiegelung kann weitergehen.

Ist es im ersten Teil ein Röntgenbild von Velazquez’ „Hoffräulein“, das wie von einem Leichentuch auf das Geschehen schaut, so droht im zweiten Teil El Grecos Großinquisitor de Guevara im Hintergrund der nächsten Außenseitertragödie: Ein Mann kauert im Kerker. Vor Augen nur die Dunkelheit. Und den sicheren Tod. Bis ihm ein Wächter Hoffnung als Gift ins Ohr träufelt: Er werde für ihn die Tür offen lassen. Doch dann muss der Häftling erkennen: Hoffnung ist die ärgste Folter.

„Ich bin nicht so naiv zu verkennen, dass das Individuum in totalitären Regimes machtlos ist. Nur durch die Musik kann ich meine Empörung ausdrücken“, sagte Dallapiccolla einmal. Er tat es gerade in „Der Gefangene“ auf hochdramatische Art. Seine gemäßigte Zwölftonmusik, durchwirkt etwa mit trostschimmernden Chorälen, ist hier die Klang gewordene Utopie der Freiheit, die im Gefangenen keimt – Markus Butter gibt diesen, auch darstellerisch, sehr beeindruckend. Die Estin Aile Asszonyi, schon im „Zwerg“ im Einsatz, liefert als dessen verzweifelnde Mutter ein kraftvolles Hausdebüt. Und Manuel von Senden ist auch als Wächter/Inquisitor wieder Hausgarant für klare Präsenz.

Die Grazer Philharmoniker, gerade zur Zeit überproportional im Einsatz, zeigen sich bezüglich Stilsicherheit und Wandlungsfähigkeit weiterhin in Hochform. Und, man wiederholt sich gern: Dirk Kaftan wird als Leidenschaftler für das Repertoire und Verlocker zu Raritäten gleichermaßen abgehen.

Bewertung: vier von fünf Sternen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.2017

Inquisition im Mädcheninternat

von Reinhard Kager 

(...) Vermutlich wäre es dramaturgisch klüger gewesen, die musikalischen Gegensätze auch szenisch zu thematisieren. Doch Regisseur Paul Esterhazy setzt auf das Verbindende: Grau in Grau ist das Einheitsbühnenbild, in dem der Ausstatter Mathis Neidhardt beide Kurzopern ansiedelt. Vom Prunk des spanischen Hofes ist nur ein riesiges Negativ von Velazquez' berühmtem Gemälde der Infantin Margerita Teresa übrig, das im Hintergrund des Kubus oft hell erleuchtet prangt. Ein leerer Bilderrahmen gleitet langsam an der Rampe hin und her, wohl ein Symbol für die in Wildes Erzählung schwarz verhängten Spiegel. Rätselhaft dennoch, dass der Zwerg ein arabisch aussehendes Double, das ihm Esterhazy zur Seite stellt, kaum zu bemerken scheint. Noch rätselhafter, dass die mit Schlipsen und Röcken gekleideten Hofdamen aus einem Mädcheninternat zu stammen scheinen und überdies zwanghafte Bewegungen vollführen, während die mit einem güldenen Kopftuch bedeckte Infantin steif neben einer Gouvernante an einem Schreibtisch sitzt.

Etwas enträtselt wird dieses Szenario im "Prigioniero": Nun ziert El Grecos Porträt des Großinquisitors die Rückwand, aus den Hofdamen wurden kleine Mädchen, inmitten derer sich ein Kleinwüchsiger vergebens an eine Kommilitonin heranzumachen versucht. Vielleicht eine Anspielung auf die Biographie Dallapicollas, der ebenso klein war wie Zemlinsky und schwer darunter zu leiden hatte, dass seine Familie 1917 aus politischen Gründen zwangsweise übergesiedelt wurde - just nach Graz, wo sich der damals Dreizehnjährige stets als Außenseiter fühlte. Esterhazy versucht, Elemente aus der jeweils anderen Oper parallel mitzuerzählen - wodurch er beide Stücke leider überfrachtet, was ihrer muskalischen Klarheit und Direktheit widerspricht. Leider geht dadurch auch viel von der politischen Aktualität der Stücke verloren   

Österreich, 27.03.2017

Ein Abend im Kern der menschlichen Natur.

Wie grausam der Mensch nicht nur zu einem anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst sein kann, stellt Der Zwerg / Der Gefangene  von Alexander Zemlinsky und Luigi Dallapicolla plakativ zur Schau.

Unter der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan spannt Paul Esterhazy einen kreativen Bogen von der hässlichen Schadenfreude bis hin zur qualvollen Hoffnung und präsentiert diese aus einer neuen Perspektive.

Gelungen. Von durchdachten Parallelen über einem simplen, aber imposanten Bühnebild zieht sich ein roter Faden erstaunlich klar durch beide Stücke, wenn auch Der Zwerg als übertrieben wahrgenommen werden könnte. Das tragische Märchen und die bedrückende Oper werden noch bis zum 10. Juni gezeigt.

die-frau.at, 27.03.2017

Die Wahrheit ist schwer – „Der Zwerg/Der Gefangene“, Regie Paul Esterhazy, an der Grazer Oper. 


von VS

Selbstbild und Fremdbild, Definition des eigenen Selbst durch den/die anderen sowie die immerwährende Anwesenheit eines Inquisitors, sei dieser in der Person eines Inquisitors selbst oder einer 18-jährigen jungen Frau, stellt der Regisseur Paul Esterhazy in zwei Werken „Der Zwerg“ und „Der Gefangene“ geschickt zusammen dar. (...) Das Selbstbild und das Fremdbild sind ständige Begleiter jeder Gesellschaft in allen Zeiten. Das gesellschaftliche Ideal bestimmt über unser Sein und unsere gesellschaftliche Stellung. Jeder, der aus dem Muster ausbricht, wird ausgelacht, ist ein Außenseiter und kann sich schwer anpassen. So der Zwerg (brillant von Ales Briscein gespielt), dem das Schicksal der Ungewissheit über sein Äußeres zum Verhängnis wird. Ein Blinder, der sich selbst als einen edlen Ritter sieht und das Lächeln bei seinem Anblick allerseits als eine Bestätigung seines edlen Auftretens sieht, würde man sagen. Das Bild vom Zwerg, das in der Oper von Alexander Zemlinsky mit dem Libretto von Georg C. Klaren dargestellt wird, entspricht im Großen und Ganzen den damaligen Vorstellungen über diesen angeborenen gesundheitlichen Zustand. Als Tier, als Spielzeug wird der Zwerg am Hofe der Infantin Donna Clara (Tatjana Miyus) gesehen. Während Donna Clara ihn für seine Liebesbekenntnisse verspottet, stellt er sich sehr männlich dar. Er will ihr treuer Gefolge sein, der sie vor allem Bösen bewacht und sie vor Gefahren schützt. Darin sieht er seine Berufung, nicht in dem, dass er sie heiratet und mit ihr ein Eheleben führt. Dabei macht ihm Donna Clara ihre Sicht auf die Rolle eines Mannes weis: er soll mit ihr tanzen, ihre lange Robe tragen. Das Herz des Zwerges zerbricht nicht am Anblick seines Antlitzes, sondern an dem Spiel, das die Gesellschaft mit ihm spielt. Die Unehrlichkeit und Hinterlist vor allem von Donna Clara, die ihm eine weiße Rose schenkt und mit ihm tanzt, während sie ihn hinter seinem Rücken verspottet, brechen sein Herz und sein Vertrauen in die Menschheit erlischt. Dabei  ist der Zwerg der Einzige, der mit sich selbst im Reinen ist, während der Rest in einem Dilemma lebt. Sehr markant ist die Umsetzung durch die grauen Kostüme (Mathis Neidhardt), bei den Frauen mit Rock, bei den Männern mit Hose, wobei die Darsteller einander äußerlich gleichen, und gleichzeitig jeder seine Macken hat. Extrem wurden die Macken durch diverse Nervenerkrankungen (Nerventick an der Schulter, andauerndes Kratzen, Verfolgungswahn, Trink- und Rauchsucht) dargestellt. Auch Don Estoban, in einer brillanten Besetzung durch Wilfried Zelinka, gibt seine Bosheit kund als er den Zwerg bewusst zu einer Lachnummer macht, während der Zwerg ihm gegenüber männlich auftritt: „Sie sagen es mir nur, weil ihr Bruder die Infantin mag. Lasst uns duellieren!“ 

Die Freiheit lebt in der Hoffnung

Nach der Pause ist das Bühnenbild von Mathis Neidhardt aus einem Bilderrahmen in Menschengröße und bedrückenden schwarzen Wänden unberührt geblieben, nur das große Bild der Infantin wurde durch den großen Inquisitor (wie ich es von meinem Sitznachbarn erfahre) ausgetauscht. Statt erwachsenen weiblichen Darstellerinnen stellen sich Kinder hinter die mitgebrachten Stühle links und rechts an die Wand und kratzen sich, niesen ununterbrochen, machen wiederholte Bewegungen, ganz wie die Gefolgen von Donna Clara aus dem „Zwerg“. Wie der Zwerg, gefangen in seiner Einbildung, er kommt bei den Menschen gut an, so ist der Gefangene (Markus Butter) in seiner Zelle gefangen und hofft auf eine Erlösung. Die Freiheitsberaubung und das Spiel der anderen, denen die Freiheit offen steht, werden in „Der Gefangene“ dargestellt. Wenn ein Leben so leicht und schnell beendet werden kann, gibt es dann noch überhaupt einen Sinn zu leben, die Folter, das Unglück, die Liebe und das Glück zu erfahren? Welche Seite der Waage überwiegt? Wohl Fragen, mit denen sich schon die größten Philosophen beschäftigt haben. (...)

Eine sehr gewagte Verbindung der Oper von  Alexander Zemlinsky und des Prologs und der Oper von Luigi Dallapiccola, zwischen deren Werken knapp 30 Jahre liegen und deren Graben in der menschlichen Seele beide allgegenwärtig macht.