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hr2 27.03.2018 Hier können Sie die Besprechung nachhören.

Eine in jeder Hinsicht aufregende, interessante, spannende Aufführung.

Von Robert Kleist

 

HNA 26.03.2018

Hier geht es mit dem Teufel zu

Von Werner Fritsch

Der Operntitel ist kaum zu übersetzen: „The Rake’s Progress“. Die Formulierung „Karriere eines Wüstlings“ trifft es nur bedingt. Und die Oper selbst: Wie soll man das nennen, was Igor Strawinsky vor 70 Jahren auf ein Verslibretto des englischen Dichters W. H. Auden und seines Co-Autors Chester Kallman geschrieben hat? Eine Hommage an die alte Opera buffa? Eine Opernparodie? Ein neoklassizistisches Opernexperiment?
Von allem etwas, könnte man sagen. Dazu eine außergewöhnliche Adaption von bildender Kunst für die Theaterbühne: Denn „The Rake’s Progress“ entstand nach der gleichnamigen Gemäldeserie des britischen Malers William Hogarth von 1733. Ein subtiles, teils skurriles Stück, dessen Libretto und Musik zu den interessantesten Opernschöpfungen des 20. Jahrhunderts zählt. Allerdings eines, auf das man sich einlassen muss. Nicht alle im Publikum fühlten sich bei der Premiere im Kasseler Opernhaus davon angesprochen – nach der Pause waren die Reihen deutlich gelichtet.
So vielgestaltig und anspielungsreich wie die Musik ist auch die Inszenierung von Paul Esterhazy. Die Geschichte vom unaufhaltsamen Abstieg des Tunichtguts Tom Rakewell spielt in einem klassizistischen Raum, der passend von zwei Treppen beherrscht wird (Bühne und Kostüme: Mathis Neidhardt). Der frömmelnde Vater von Toms Verlobter Anne, die unschuldig verliebte junge Frau, der (zunächst) weiß gekleidete Tom – alles deutet auf eine Familienidylle.
Gäbe es da nicht Irritationen: Alle hängen ständig an ihrem Handy. Auch wer der schattenhaft dunkle Mann ist, der Tom unvermittelt eine riesige Erbschaft ankündigt, lässt sich ahnen: Nick Shadow zieht verdächtig einen Fuß nach. Er führt Tom durch eine bunte Szenenfolge als Stationen seines Abstiegs: Ein Londoner Bordell, die Heirat mit der bärtigen Türkenbab, einer Jahrmarkt-Attraktion, die Investition in eine vorgeblich weltrettende Maschine. Bei Esterhazy ist es das Smartphone, dem alle suchtartig verfallen – ein etwas überzogener Ansatz.
Dass die Handlung hinter einem Gazevorhang spielt, vor den die Akteure treten, wenn sie ihre Botschaften ans Publikum richten, verleiht dem Stück Tiefenschärfe. Denn natürlich steckt hinter all der Ironie eine ernsthafte Botschaft, die auf berührende Weise in der Schlussszene zu an Bach gemahnender Musik aufscheint, wenn Anne sich vom wahnsinnig gewordenen Tom, der sich für Adonis und sie für Venus hält, verabschiedet.
Überzeugend als Sängerdarsteller agieren Daniel Jenz, ein stimmstarker Tom mit hoher Präsenz, Elisabeth Bailey mit großer Reinheit als mitfühlende Anne, Marc-Olivier Oetterli als geheimnisvoller, aber auch penetranter Nick sowie Belinda Williams als schrille, bewegliche Türkenbab. Florian Spiess (Vater Trulove), Lona Culmer-Schellbach (Bordellbesitzerin Mother Goose), Johannes An (Auktionator) und Ji Hyung Lee (Wärter) sowie der sehr präsente Opernchor vervollständigen die gute Ensembleleistung.
Igor Strawinsky rekurriert mit seiner Musik auf die Operngeschichte: Das beginnt mit dem Orchester in Mozart-Besetzung, bei dem insbesondere die Bläser solistisch hervortreten. Die Formen der alten Buffa einschließlich Rezitativ werden aufgenommen, es finden sich Anklänge an Händel, Bach, Mozart und Verdi – und doch ist diese hochvirtuose Musik jederzeit eigenständig. Der erste Kapellmeister Alexander Hannemann führt Bühne und Graben gut zusammen, allerdings sind die Temperaturunterschiede im Stück nicht sehr hoch – besondere Spannungsmomente und Pointierungen bleiben die Ausnahme. Die Beifallsbekundungen reichten von höflich bis enthusiastisch.

 

KulturMagazin Kassel 05.2018

Ganz schön heruntergekommen

Von Johannes Mundry

„Ein hoechst erbaulich Melodram von einem, der herunterkam", so kündigte eine Schrifttafel an, was die Besucher nun erwarten würde - ein Versuch, den schwer übersetzbaren Titel von Igor Strawinskys Oper „The Rake's Progress" zu übertragen. Was dann begann, war ein amüsantes, vielfältiges und oft überraschendes Stück Musiktheater.

Worum geht es? Das Libretto, das auf einer Folge von acht Kupferstichen des englischen Malers und Grafikers William Hogarth basiert, entwirft das Leben des Tom Rakewell (Rake = Wüstling), der von einem Mephisto namens Nick Shadow (!) aus der Provinz ins sündige London gelockt wird. Auf dem Land lässt er seine Liebe Anne Trulove (!!) zurück, die, als er nichts mehr von sich hören lässt, nach London aufbricht, ihn findet, ihm aber nicht mehr helfen kann. Nick, der Teufel, reibt sich schon die Hände über die gefangene Seele, doch in letzter Minute gelingt es dem Wüstling, sich seinen Fängen zu entziehen. Einen Fluch allerdings kann Nick noch ausstoßen. Tom wird verrückt, hält sich fürAdonis, landet im lrrenhaus. Anne singt ihm ein letztes Wiegenlied.

Der Regisseur Paul Esterhazy lässt alles in einem Einheitsbühnenbild hinter Gaze ablaufen. Immer wieder tritt eine Person hervor, steht dann allein im Rampenlicht. lm Zentrum sehen wir eine große Treppe, Bild für den bösen, armen, reichen Tom, der „herunterkam". Ein arger Narziss ist er, hat nur noch Augen für sein Mobiltelefon wie die übrige Gesellschaft auch, die nicht mehr miteinander spricht, sondern nur noch über das Gerät. Pervertierte „Kommunikation"! Höchst unterhaltsam ist es, was sich hier abspielt. Immer ist etwas los, man kann sich so richtig am bösen Spiel delektieren - bekommt allerdings am Ende die Quittung als Moral von der Geschicht mit ausgestrecktem Zeigefinger.

Wieder gab es gelungene Sängerleistungen zu beklatschen: Daniel Jenz als Tom gab der Titelfigur Tiefe und viele vokale Facetten, Marc-Olivier Oetterli dem Nick ebenso schillernden Charakter, Belinda Williams als die bärtige Türkenbab aus dem Zirkus konnte ihr Temperamt kaum zügeln und sang vorzüglich. Mit kleinen Abstrichen gab Elisabeth Bailey die brave Anne vom Dorf, die große verdianische „Arie" Ende des ersten Akts gelang ihr gut. Auch die Nebenrollen mit Florian Spiess als Vater Trulove, Lona Culmer-Schellbach als Mother Goose, Johannes An als Auktionator Sellem und Ji Hyung Lee als lrrenhauswärter waren gut besetzt. Der Chor passte sich dem guten Niveau an.

1951 wurde „The Rake's Progress" im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt, zu einer Zeit also, als die „Neue Musik" schon in die zweite bis dritte Generation ging. Der russische Komponist, wandelbar wie ein Chamäleon, hat hier einen Riesenschritt zurück getan, um weiter nach vorne zu gelangen. Das Orchester entspricht dem von Mozarts „Cosi fan tutte", und tatsächlich ist Mozart der große Fixpunkt der Komposition. Wir hören Arien, Duette, Terzette, sogar vom Cembalo begleitete Rezitative. Darüber hinaus lässt Händel grüßen, auch Verdi mit seinem Melodienreichtum, nicht jedoch der Strawinsky der skandalumwitterten Ballettmusik „Le sacre du printemps" von 1913. Für ein Orchester ist „The Rake's Progress" eine echte Herausforderung. Kein Musiker kann sich auch nur eine Sekunde im bequemen Klangbett der Kollegen verstecken. Alles ist durchsichtig, das kleinste Fehlerchen liegt auf dem Silbertablett. Doch Fehlerchen gab es kaum, das Staatsorchester unter der Leitung von Alexander Hannemann war in exquisiter Form. Besonders die Bläser hatten Großes zu leisten, und sie leisteten es ausgezeichnet. Eine echte Freude!

Warum nach der Pause viele Besucher nicht wiederkamen, muss ein Rätsel bleiben. „The Rake's Progress" ist witzige, spritzige Oper von feiner Handschrift. Es muss nicht immer Mozart und Verdi sein. Ist Neugier eine aussterbende Eigenschaft?