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Frankfurter Rundschau, 21.09.2010

> Der Mensch: Nicht mehr als das?
Paul Esterhazy in Kassel mit Reimanns Oper "Lear" 
von Georg Pepl 

An William Shakespeares Drama "König Lear" scheiden sich die Deutungen vielleicht mehr als bei anderen Werken des Engländers. Der Theatertheoretiker Jan Kott begriff das Stück als "tragischen Spott über jegliche Eschatologie, über den Himmel, der auf Erden kommen soll, und über den Himmel nach dem Tod". Dieser Lesart hat sich der Komponist Aribert Reimann nicht angeschlossen. Am Ende seiner im Jahre 1978 uraufgeführten, mittlerweile schon klassischen Oper "Lear" wirkt ein rätselhaft schöner, sphärenhafter Raumklang wie ein Fenster in eine andere Dimension. In den Notizen des Komponisten heißt es dazu: "Eine neue Welt tut sich auf."

Eindringlich stellt Paul Esterhazy in seiner Kasseler Inszenierung der Reimann-Oper die Frage nach den letzten Dingen. Gleich einem Motto steht die Aufschrift "Is man no more than this?" auf dem eisernen Vorhang, bevor der Zuschauer mit dem irdischen Jammertal einer Krankenhaus-Szenerie konfrontiert wird. Es sind Bilder aus König Lears Sterbezimmer, halb realistisch (mit einer gar oft auftretenden Krankenschwester), halb surreal als Imagination aus dem Kopf des Sterbenden.

Zur Traumlogik gehört, dass Lear, der Narr und der Graf von Gloster womöglich eine einzige Person sind, ebenso wie auch die drei identisch gekleideten Töchter des Königs. Verstärkt durch großformatige Live-Videos mit Nahaufnahmen, etwa einer Infusion, entfalten die Bilder eine enorme Wirkung.

Ein Junge mit blondem Engelshaar betritt die Bühne, wenn es gewalttätig wird, bei Glosters Blendung oder beim Zweikampf der beiden Halbbrüder Edgar und Edmund. Zuletzt verweilt der Junge als Ministrant mit dem Priester/Graf von Kent und Tochter Cordelia am Bett des Toten. Man muss nicht katholisch sein, um da in eschatologisches Grübeln zu geraten.

Starke Rollenporträts haben die Kasseler Sänger zu bieten, allen voran Espen Fegran als unpathetisch-expressiver Lear, der Countertenor Michael Hofmeister als Edgar und die Sopranistin Caroline Stein als Cordelia.

Das Staatsorchester Kassel spielt hinter der von Mathis Neidhardt raffiniert gestalteten Bühne, es realisiert unter Generalmusikdirektor Patrik Ringborg die heftigen Klangballungen und dunklen Schönheiten der Partitur auf imponierende Weise. Aribert Reimann, der zur Premiere angereist war, warf den Musikern eine Kusshand zu.

 

Die deutsche Bühne, 01.11.2010

> Leidensfieberkurven 
Aufführungen von Aribert Reimanns neuer Oper „Medea" in Frankfurt und seinem Hauptwerk „Lear" in Kassel offenbaren künstlerische Verwandtschaften zwischen der antiken Kindsmörderin und Shakespeares verstoßenem Vater 
von Detlev Brandenburg

Ihm habe, so bekennt der Berliner Komponist Aribert Reimann auf der Homepage der Oper Frankfurt, immer im Kopf herumgespukt, noch einmal ein weibliches Pendant zum „Lear" zu schreiben: „Was mit dem Lear als Mann geschieht - das zu zeigen mit einer Frau. Das Ergebnis dieses Kopfspuks wurde bei der Uraufführung im Februar an der 21 Wiener Staatsoper ebenso begeistert gefeiert wie im September an der Oper Frankfurt. Deren Intendant Bernd Loebe hatte sich die deutsche Erstaufführung von Reimanns „Medea" gesichert - in Marco Arturo Marellis Wiener Inszenierung, aber mit neuer Besetzung – und, damit eine spannende Terminkonstellation geschaffen: Nur ein paar Tage später kam am Staatstheater Kassel eben Reimanns „Lear" heraus - Gelegenheit zur Probe also auf die von Reimann reklamierte Seelenverwandtschaft.

Auf jeden Fall ist die Selbsteinschätzung bezeichnend - gerade weil man mit gutem Grund darauf hinweisen kann, dass die rasende Kindsmörderin und den alterwirren König nicht nur viele Kapitel der Literaturgeschichte, sondern auch grundlegende Charakterzüge voneinander trennen. Wäre Lear so radikal wie Medea, hätten seine Kinder ihre Machtgier mit dem Tod bezahlt. Und wäre Medea skrupulös wie Lear, wären ihre Kinder auf alle Zeit sicher vor ihr. Doch auf die Individualität der Charaktere, auch auf Komplexität der Handlung kommt es dem Altmeister der Literaturoper offenbar nicht in erster Linie an. Der gemein¬same Nenner, über den erden Greis und die Rächerin miteinander in Beziehung setzt, ist der des exorbitanten Leides. Ihn interessiert die Frage, was dieses Leid in der Seele anrichtet, die „Medea"-Musik ist ganz aus dieser Intention inspiriert: ein seismographisch-nervöser, beizeiten brodelnder, förmlich aufschreiender Stream of consciousness. Dass es Reimann kaum ausgehalten hat, wenn er seinen Schaffensprozess unterbrechen musste, leuchtet sofort ein, ebenso wie die Wahl der Vorlage für sein Libretto: Grillparzers Anverwandlung des antiken Stoffs, die die Charaktere stark psychologisiert - beispielsweise, indem sie Medeas Gewaltausbruch durch ihre De¬mütigung als Fremde im griechischen Korinth motiviert. Die antike Schlächterin erscheint auch als Opfer, fähig zu Einsicht und Demut - sie bekommt ei¬ne Seele, deren Leidensfieberkurven die Musik nachspürt.

„Medea" in Frankfurt: Seelenkunde von Meisterhand

Wie meisterlich sie nicht nur im Dröhnen des Schlagwerkes, sondern mehr noch in gläsern aufgesplitterten Streichflächen ihre Sonden an die Psyche der Heldin legt - das kam bei der deutschen Erstaufführung am Frankfurter Opernhaus bestens zur Geltung. Erik Nielsen, Kapellmeister am Haus, leitete das Orchester zu einer strukturklaren Interpretation an. Und wieder einmal - was den meisten Häusern als Glücksfall gilt, ist in Frankfurt Standard hörte man ein vorzügliches Sängerensemble. Wobei Claudia Barainsky als Primadonna des Abends unangefochten blieb. Reimann hat seiner Medea eine ebenso expressive wie kunstvolle Koloraturpartie geschrieben, eine heikle He-rausforderung, die Barainsky glänzend bestand, weil sie „Ausdruck" nie als Lizenz für naturalistische Drücker missinterpretierte, sondern das Extreme ihrer Figur in der exaltierten Künstlichkeit der Partie suchte und fand: mit einer teils geradezu filigranen Feinnervigkeit der Stimmführung. Als Amme hinterließ Tanja Ariane Baumgartner mit herber Mezzosopran-Tiefe und leidenschaftlich lodernder Höhe, starke Eindrücke, Michael Nagy brillierte als wohlklingend dunkler, markanter Jason, Michael Baba gab einen scharfkantig charakterisierten Kreon, Paula Murrihy eine Kreusa mit lyrisch-leichtfüßiger Koloratur, Tim Severloh schließlich einen Herold mit energetisch strahlendem Counter. 

Freilich - manchmal fragte man sich bei Nielsens Dirigat, ob der Sinn fürs Meis¬terliche nicht auf Kosten der thematischen Radikalität ging, die ja auch Grillparzer nicht zurücknimmt. Zumal Marco Arturo Marelli sich aufs wohlgefällig Werkgerechte beschränkte. Mit dem Gegensatz von roher Felslandschaft für Medeas Atavismus und dem schwebenden Palast-Kubus für Kreons griechische Noblesse schuf er zwar eine sinnfällige Bildlichkeit, die durch Dagmar Niefinds Kostüme - farbige Folklore für die wilden Kolcherinnen, blendendes Weiß für die edlen Korinther unterstützt wurde. Doch das buchstäblich Exorbitante von Medeas Tun wurde kaum spürbar, alles blieb opernhaft.

Wie man die psychogrammatische Radikalität von Reimann Musiksprache in eine Bühnenwelt transformieren kann - das zu zeigen blieb Paul Esterhazy am Staatstheater Kassel vorbehalten. Esterhazy hat sich von seinem Bühnenbildner Mathis Neidhard eine Krankenhaus-Szenerie auf die Vorbühne bauen lassen, die etwas vom surrealen Hyperrealismus Anna Viebrocks hat, Pia Janssen hat den Figuren das typische Outfit von Krankenhaus-Personal, Patienten und ihren Besuchern verpasst. In drei durch blaue Vorhänge abgeteilten Quadraten stehen drei Krankenbetten, in jedem erlebt eine Lear-Gestalt ihre letzten Stunden, in denen noch einmal ihr grausiges Lebens Revue passiert - der letzte Film sozusagen, und auf einer weißen Fläche über den Krankenbetten laufen tatsächlich Filme, teils life aufgezeichnet vom Videoteam Peer Engelbracht/Stephan Komitsch: Blutfärbt Flüssigkeiten, tränkt Gewebe, ein Skalpell seziert ein Organ, Hände krampten sich ans Bettgestänge - Prozesse von Leid, Zersetzung, Zerstörung in schmerzhafter Großaufnahme. Hinter den Vorhang-Quadraten verläuft ein Gang durch dessen Wand dann und wann das Orchester durchschimmert, das mit seinem Leiter, dem Kasseler GMD Patrik Ringborg, hinten auf der Hauptbühne postiert ist.

„Lear" in Kassel: Die Szene als Chiffre der Musik
Man kann dieses Setting auf zweierlei Weise lesen: einerseits als psychorealistische Szenerie, die tatsächlich das zeigt, was als Erinnerung im Kopf des sterbenden Helden abläuft; andererseits aber als Meta-Kommentar zu Aribert Reimanns Musik. Das auf der Bühne postierte Orchester wird ganz sinnfällig zum Resonanzkörper seelischen Leids. Die Zerstörungschiffren der Videoeinspielungen spiegeln suggestiv die Leid-und Schreckenschiffren dieser Musik. Und die raffiniert umgesetzte Auflösung der personalen Identität der Figuren - der linke Lear entpuppt sich als Narr, der rechte ist Gloster, die drei Töchter Lears und die beiden Söhne Glosters erscheinen jeweils im gleichen Kostüm - trifft den phantasmagorischen Charakter einer innerseelischen Retrospektive ebenso genau wie Reimanns musikalische Psychologie, die eben nicht auf das Individuelle zielt, sondern auf das Typologische: auf den Archetypus, der durch verschiedene Figuren hindurchschimmert. Unter dem Aspekt dieser Musik kann Medea tatsächlich als Lears Seelenschwester erscheinen - oder Gloster als Lears Bruder im Leid.

So wird klar, wo der Stachel dieser Musik liegt: nicht in der Klangbebilderung einer literarischen Handlung, sondern in den psychischen Reflexen, die die Vorgänge auslösen. Und es passt zu diesem Ansatz, dass Esterhazys Inszenierung keineswegs restlos „aufgeht", sondern dass ein assoziativer Überschuss entsteht, so dass sich die von Shakespeare vertraute Handlung in irrlichterndem Surrealismus verflüchtigt. Dass das Bühnengeschehen gleichwohl äußerst suggestiv wirkt, liegt an Esterhazys in¬tensiver Figurenführung, die von den Sängern faszinierend umgesetzt wird, bis hin zu kleinsten stummen Rollen wie die von Laura Torrico dezent, aber stark verkörperte Krankenpflegerin. 

Ob es ein Unterschied der Dirigate oder eben doch der Werke ist, wenn der Kasseler „Lear" unter Patrik Ringborg kraftvoller, zugespitzt-expressiver klingt als die„Medea" unter Nielsen in Frankfurt das müssen spätere „Medea"-Aufführungen zeigen. Mit dem Frankfurter Sängerglücksfall allerdings kann Kassel natürlich nicht mithalten, gleichwohl bringt das Ensemble das Werk musikalisch beachtlich und schauspielerisch sogar weit intensiver als in Frankfurt zur Geltung. Da ist Espen Fegran ein bewegend-expressiver, altersrauer Lear, Krzysztof Borysiewicz gibt dem Gloster dunkelelegante Emphase, Johannes An ist ein Kentvon klar gezeichneter Tenorkontur, Ruth-Maria Nicolay eine nervös exaltierte Regan, Lona Culmer-Schellbach eine dunkel-dramatische Goneril. Caroline Stein gibt der Cordelia eine etwas spröde Lyrik, Michael Hofmeister dem Edgar leuchtend prägnanten Counterklang, während Rainer-Maria Rohrs Edmund etwas angestrengt wirkt.
 
In Frankfurt wurde die Eleganz und Meisterschaft eines Spätwerks eindrucksvoll zur Geltung gebracht. Mehr darüber, was Reimanns Komponieren antreibt, erfuhr man in Kassel.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2010

> Alles krank 
von Gerhard Rohde

Da liegen sie alle drei, fein säuberlich durch Vorhänge getrennt, in Krankenbetten nebeneinander auf der Szene, die Bühnengestalter Mathis Neidhardt für die Kasseler Inszenierung von Aribert Reimanns Erfolgsoper „Lear“ als eine Art Nervenklinikum eingerichtet hat: König Lear, sein Hofnarr und der Graf von Gloster. Sie ähneln einander sehr in ihren weißen Krankenhemden mit dem durchgehenden Schlitz hinten. Und es scheint so, als wären die Ereignisse, die Shakespeare in seinem Drama beschreibt, bereits Vergangenheit. In der Klinik halluziniert sich Lear noch einmal die Ereignisse. Narr und Gloster erscheinen wie Vervielfachungen des Königs, und die anderen Figuren wirken wie aufgerufene Marionetten, die vor Lear und dessen Phantastereien noch einmal allen Wahnsinn durchspielen. Das wird in der Inszenierung von Paul Esterhazy mit bemerkenswerter Konsequenz, Präzision und theatralischer Lebendigkeit umgesetzt. Gleichwohl bleibt ein Einwand: Die dramatische Fallhöhe der Lear-Figur wird geopfert zugunsten einer flächigen, quasi psychologischen Fall-Studie. Dass Reimanns Musik dabei in gewisser Weise ihrer musikdramaturgischen Funktion enthoben wird, könnte man als Defizit bezeichnen. Da das Orchester aber hinten auf der Bühne hinter einem transparenten Schleier postiert ist, präsentiert sich das Klanggeschehen ohnehin eher als Flachrelief, so engagiert auch Dirigent (Patrick Ringborg) und Musiker sich einsetzen. Die Sänger, meist vorn agierend, sind dafür oft überdeutlich vernehmbar, was der Textverständlichkeit zum Vorteil gerät. Ein einsatzfreudiges Ensemble mit dem eindringlichen Espen Fegran als Lear stellt der Kasseler Opernarbeit das beste Zeugnis aus.

 

DeutschlandRadio, 18.09.2010

> Shakespeares Langzeitwirkung in der Geriatrie
Aribert Reimanns „Lear“, inszeniert von Paul Esterhazy in Kassel 
von Frieder Reininghaus

William Shakespeares Lear ist ein Stück aus temperamentvollen Zeiten, in denen die Eigentumsverhältnisse in der upper class mit Gift und Dolch geregelt wurden. Der Berliner Komponist Aribert Reimann ließ sich die im britischen Mittelalter angesiedelte komplexe Handlung auf 11 Szenen reduzieren – gestützt auf Johann Joachim Eschenburgs „Lear“-Übersetzung, da diese „in Härte und Klarheit“ dem Original näherkomme als die von Schlegel und Tieck. Die 1978 in München uraufgeführte Oper hat in den letzten drei Jahrzehnten einen Erfolgsweg zurückgelegt. Was Wunder: Im wohl austarierten Wechsel von komplexen Partien und berückend einfach ausgezogenen Episoden ist Reimann eine Theaterpartitur von exemplarischer Qualität gelungen. 

Das Staatstheater Kassel präsentiert eine markante Neuinterpretation. Der Regisseur Paul Esterhazy zeigt in der Krankenhaus-Architektur von Mathis Neidhardt (Kostüme: Pia Janssen) drei Stunden Intensivstation – angereichert mit Videos von zwei ‚Fachärzten’ (das Duo nennt sich ‚impulskontrolle’). Für den König, den Narren und den getreuen Grafen Gloster stehen drei Betten bereit. Hinter einen der grauen Vorhänge wird zur Bekanntgabe der Erbteilung geladen. Und von der Hinterbühne her mischt sich das Orchester unter Leitung von Patrik Ringborg ins Geriatrie-Geschehen ein. Es ist wegen einer stark getönten Trennscheibe kaum sichtbar, akustisch allerdings höchst präsent. Die Schichtungen der Partitur werden transparent, die Differenzierung des Simultanen läßt feine Nuancen wahrnehmen.
Auch die vokalsolistischen Leistungen in Kassel erscheinen – selbst im internationalen Vergleich – bemerkenswert: In der Titelpartie überzeugt Espen Fegran ebenso wie Krzysztof Borysiewicz (Gloster) als Schmerzensmann, Michael Hofmeister als dessen zu erstaunlicher Verstellung fähiger Sohn Edgar und Rainer Maria Röhr als bitterböser Halbbruder. Die drei Töchter bleiben ihren Partien ebensowenig schuldig: Lona Culmer-Schellbach (Goneril), Ruth-Maria Nicolay (Regan) sowie Caroline Stein (Cordelia). 

Die Blendung Glosters, obwohl dies Verbrechen hinter einem zugezogenen Vorhang vonstatten geht, dringt scharf ins Bewußtsein nicht nur durch die Schreie des Opfers und die Akzente der Musik, sondern auch durch die von Impulskontrolle live auf die Projektionsfläche gebrachten Einblendungen. Die weit von Schloß und Heide des Originals sich entfernende Produktion hat ihre Plausibilitätsprüfung bestanden. So wie Reimann mit seiner Musik das alte Sujet auf die Höhen und Tiefen der Siebziger Jahre hob, so gelang Esterhazy mit seinem theatralen Zugriff die Aktualisierung: sein Lear ist schonungslos von 2010.

hr2, Frühkritik, 20.09.2010
> Morbide und beklemmend und dennoch auch zum Teil wirklich komisch...
von Dr. Andreas Wicke (im Gespräch mit Ruth Fühner)

(…) Zeitgenössische Musik zu beschreiben ist manchmal nicht ganz einfach, aber ich fand ein Bild von Reimann, das er in einem Interview dazu geäußert hat, sehr anschaulich. Der erste Satz LEARs wird a cappella gesungen, dann setzt das Orchester ein und dazu kommentiert Reimann: Aus diesem Gefängnis – aus diesem Musik–Orchester-Gefängnis, das sich nun um ihn herum entwickelt -, kommt er nicht mehr raus. Das ist einerseits sehr schwere, brutale Musik andererseits aber absolut faszinierend suggestiv, die lässt einen als Hörer nicht mehr los!

Ruth Fühner : „Wie sieht dieses Gefängnis dann in Kassel aus unter der Regie von Paul Esterhazy?“

... Er verlegt die Handlung ins Krankenhaus. Der kranke König liegt im Krankenhaushemd in einem Krankenhausbett. Und links und rechts von ihm sind zwei identische Zimmer, mit zunächst auch identisch aussehenden Patienten, die man erst nach und nach als den Narr und den Graf von Gloster, von dem sich dann dieser zweite Handlungsstrang entwickelt, erkennt. Über den Patienten gibt es Live-Projektionen, Ausschnitte aus dem Krankenhausleben auf der Bühne. Das sind mal Patientenfüße, mal eine tropfende Infusion, mal eine sich auflösende Tablette – man merkt schon, das sind auch schöne Bilder, alles riesenhaft vergrößert – und diese Projektionen tragen ganz wesentlich zu einer Stimmung bei, die zum Teil groteske, kafkaeske, absurde Züge trägt. Aber nicht nur die Patienten sehen identisch aus, auch die Töchter sind modisch und frisurentechnisch geklont. Auch die Gloster-Söhne, die Männer der Töchter sehen gleich aus. Und dadurch entsteht eine ganz stark psychologisierende Inszenierung. Sehr modern und trotzdem zeitlos, aber auch sehr morbide und beklemmend und dennoch auch zum Teil wirklich komisch.

„Und wenn die alle so ähnlich aussehen – wie geklont, dann unterscheiden sie sich, ja, womöglich durch die sängerischen Leistungen?“

Auch durch die kompositorische Anlage – man braucht tatsächlich eine ganze Weile bis sich diese Figuren für einen als Zuschauer auseinander dividieren. Und es sind natürlich für die Sängerinnen und Sänger unglaublich schwierige Partien, die sie wirklich gut gemeistert haben: Espen Fegran ist ein stimmgewaltiger, sehr modulationsfähiger König Lear, die Töchter werden gesungen von Lona Culmer-Schellbach, Ruth-Maria Nicolay und Caroline Stein. Da hat Aribert Reimann den Kontrast dieser beiden machtgierigen Schwestern so angelegt, dass die eine versucht, durch große Intervall-Sprünge zu glänzen und die andere durch Koloraturen. Meine Favoritin war Regan, also die mit den Koloraturen, gesungen von Ruth-Maria Nicolay, Gast in Kassel. Es ist ja normalerweise kein Kompliment für eine Sängerin, wenn man sagt, sie singt wie eine Maschine. Aber hier ist es wirklich ein großes Lob, denn sie singt wirklich diese Koloraturen so völlig kalt und emotionslos. So messerscharf und haargenau zu singen, das fand ich schon klasse! Wenn ich noch einen aus dem Ensemble herausgreifen darf, dann Michael Hofmeister, der als Counter-Tenor Edgar, also den Sohn des Gloster singt. In dieser Partie spielt Reimann mit den verschiedenen Lagen – die Inszenierung nimmt das dann durch eine Kostümierung, mal als Mann mal als Frau wieder auf – und Hofmeister ist nicht nur ein toller Sänger und Schauspieler, sondern auch wesentlich für die groteske Wirkung dieser Inszenierung mitverantwortlich.

„So viel also zu den Sängern, Darstellern. Das Orchester wurde dirigiert von Patrik Ringborg. Wie geht er diesen Riesenbrocken an?“

„Zunächst ist das Orchester nicht dort, wo man es erwartet, nämlich nicht im Orchestergraben, sondern hinter der Bühne. Man ahnt es nur schemenhaft durch so einen Gaze-Vorhang. Es ist zwar schade, dass man diesen riesenhaften Schlagwerk-Apparat nicht sehen kann, aber die Anordnung hat eine ganz tolle akustische Wirkung. Damit hängt sicher auch zusammen, dass man jedes Wort versteht. Man ist als Publikum einfach näher dran an der Handlung. Und damit die Solisten auch ihre Einsätze bekommen, gibt es an der Rampe noch zwei Sub-Dirigenten. Ja, in der Beurteilung von Patrik Ringborg und dem Orchester kann man sich eigentlich nur dem Lob anschließen, das Aribert Reimann, der auch im Publikum war am Samstag – hinterher ausgesprochen hat. Das klang nicht nach einem Lob, das er standardmäßig aufsagt: er schien wirklich richtig begeistert von Regie und Musik. Er sprach von einem unwahrscheinlich tollen Orchester und hat Patrik Ringborg als einen sehr genauen Dirigenten hervorgehoben. Und damit hat er absolut recht (…)

„Also einer im Publikum war begeistert. Wie sah es um ihn herum aus?“

Das ist natürlich eine sehr schwere Musik und einige sind sicher auch in der Pause gegangen, aber es gab einen mächtigen Applaus. Das Publikum schien dann doch in diese Sogwirkung der Musik hineingezogen und das mutige Unterfangen, eine Spielzeit mit so einem zeitgenössischen Werk zu beginnen, ist allemal belohnt worden.

 

HNA, 20.09.2010
> Wie uns das Leben einholt
Das Staatstheater Kassel eröffnet die Spielzeit mit einer herausragenden Inszenierung der Reimann-Oper „Lear“ 
Reimann-Oper „Lear“
von Werner Fritsch

Kann man diesem alten Mann böse sein? Der abgedankte Herrscher Lear hilflos im Sterbezimmer eines Krankenhauses. Wird da nicht alles Vorangegangene bedeutungslos, ist es nicht die Zeit des Verzeihens?
Nein, das Leben holt uns ein, und die Erinnerung an begangenes und erlittenes Unrecht kann uns den Verstand rauben. Finale Tröstung? Ungewiss. 

Diese Botschaft der Shakespeare-Tragödie übermittelt Aribert Reimann in seiner aufwühlenden Oper „Lear“ aus dem Jahr 1978. Und der Wiener Regisseur Paul Esterhazy hat sie zum Spielzeitbeginn im Kasseler Opernhaus höchst virtuos in Szene gesetzt.
Alles scheint superrealistisch (Bühne: Mathis Neidhardt): Das Stationszimmer, die drei Bettenabteile, in denen der Narr (Dieter Hönig), Lear (Espen Fegran) und Gloster (Krzysztof Borysiewicz) liegen. Lears Familie ist anwesend: die drei Töchter Goneril, Regan und Cordelia, die Schwiegersöhne Albany, Cornwall und France. 

Live gefilmte Videobilder (Peer Engelbracht, Stephan Komitsch) treiben den Realismus auf die Spitze: Die Infusion tropft riesenhaft vergrößert, später wird sich die Giftkapsel, mit der Goneril ihre Schwester Regan tötet, in Großaufnahme auflösen.
Doch dieser Realismus wird unterminiert: Sind die drei Bettlägerigen in Wahrheit nicht einer? Auch die Töchter, die Schwiegersöhne sowie Glosters Söhne Edgar und Edmund sind identisch gekleidet (Kostüme: Pia Janssen). Sind sie Aufspaltungen jeweils einer Person in einem verwirrten Gehirn? 

Es ist hohe Inszenierungskunst, mit welcher Präzision Esterhazy die innere und äußere Realität verzahnt. Und dabei auf überraschende Deutungen kommt: Wenn Glosters verstoßener Sohn Edgar in Reimanns Partitur als armer Tom vom Tenor zum Countertenor mutiert, dann lässt Esterhazy den Verstörten das Kostüm Cordelias anziehen. Sind es nicht diese beiden, in denen die Vaterliebe wohnt - und die, ganz prosaisch, aufwischen, wenn die Alten inkontinent sind? 

Unmöglich, alle Knotenpunkte des dichten Beziehungsnetzes zu nennen, das Esterhazy knüpft. Doch in dieser Verdichtung - und synchron zu Reimanns suggestiver Ausdrucksmusik - gewinnt die Tragödie um Verblendung, Hass, Machtgier und hilflose Liebe neben der dramatischen auch eine poetische Form. Eine solche Form der Poesie enthüllen letztlich auch die riesigen Videobilder. In ihr ist die Realität - oder pathetisch: die Wahrheit - der schrecklichen Lebensbilanz Lears aufgehoben.
Da kann der treue Kent als Priester mit den Sterbesakramenten ruhig zu spät kommen. Der Friede ist schon hergestellt.

Espen Fegran gelingt als Lear eine Glanzleistung

Diesem Lear kann sich niemand entziehen: Espen Fegran hat als grandioser Sängerdarsteller alle Töne und Untertöne parat für die komplexe Titelfigur zwischen Verblendung, Wahnsinn und Zärtlichkeit. Getragen von einem starken Ensemble, aus dem neben Lears Alter Egos, dem Narren Dieter Hönigs und dem Gloster Krzysztof Borysiewiczs, vor allem die Töchter herausragen: Caroline Stein ist eine Cordelia von stimmlich hohem Reinheitsgrad und Ruth-Maria Nicolay verleiht den Koloraturen Regans heftige Ausdruckskraft. 

Lona Culmer-Schellbach ist mit ihrem weich-voluminösen Sopran als Goneril keine Idealbesetzung - dennoch gelingt ihr ein starkes Rollenporträt. Michael Hofmeister bewältigt den Rollenspagat als Edgar/Armer Tom ebenso bravourös wie den Wechsel zwischen Tenor und Countertenor. Höhensicher, aber etwas flach in der Tongebung Rainer Maria Röhrs Edmund. Johannes An ist ein stimmlich wie darstellerisch virtuoser Kent. Mario Klein (France), Geani Brad (Albany) und János Ocsovai (Cornwall) sowie der Herrenchor runden die Ensembleleistung ab.
Als sängerfreundlich und der Homogenität des Gesamtklangs dienlich erweist sich die Platzierung des Orchesters hinter der Bühne. Patrik Ringborg entfaltet, unterstützt von den Subdirigenten Giulia Glennon und Xin Tan, die bei aller konstruktiver Raffinesse sehr direkt wirksame Musik Reimanns in ihrem Klangreichtum zwischen poetischer Versenkung und Gewaltsamkeit. Zunächst etwas zögerlicher, dann aber lang anhaltender Beifall.

 

Göttinger Tageblatt, 25.09.2010

> Hohes musikalisches Niveau
Regisseur Paul Esterhazy inszeniert „Lear“ in der Staatsoper Kassel
von Michael Schäfer

Allen Unkenrufen zum Trotz hält sich die schon so oft totgesagte Kunstform Oper beständig – und das Repertoire der Opernhäuser vermehrt sich auch stetig um zeitgenössische Werke. Zwei Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts können dafür exemplarisch stehen: Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ und Aribert Reimanns „Lear“.

In den späten 1960er Jahren machte das Kasseler Staatstheater mit den „Soldaten“ Furore – nun eröffnete das Haus mit Reimanns „Lear“, einer der erfolgreichsten Opern der vergangenen 30 Jahre, die neue Spielzeit. 

Die Anregung zu dem Werk nach Shakespeares düsterem Drama (an das sich Verdi nicht herangetraut hatte) stammt von dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der in der Münchener Uraufführung 1978 die Titelpartie sang. In Kassel war der norwegische Bariton Espen Fegran, seit vergangener Spielzeit Ensemblemitglied, mit dieser ungewöhnlich anspruchsvollen Aufgabe betraut: eine sängerische wie darstellerische Glanzleistung, die höchsten Respekt verdient.

Regisseur Paul Esterhazy verlegt Shakespeares Geschichte auf die Intensivstation eines Krankenhauses und führt die Handlung als Rückblende des todgeweihten Titelhelden vor. Die Konzentration auf einen einzigen Schauplatz verdichtet und intensiviert das Geschehen, auch wenn manche Zusammenhänge dann nicht bebildert werden, sondern vom Zuschauer rekonstruiert werden müssen.

Drei Krankenbetten dominieren die Bühne (Mathis Neidhardt), belegt von Lear in der Mitte, flankiert vom Narren (Dieter Hönig) und Gloster (Krzysztof Borysiewicz). Dank gleicher Kostüme (Pia Janssen) sind diese drei Personen einander zum Verwechseln ähnlich. Gleichartig gekleidet sind ebenfalls Lears Töchter Goneril, Regan und Cordelia sowie deren Partner Albany, Cornwall und France. Komplettiert wird die Szene durch ein Stationszimmer zur Linken, in dem die beiden Live-Videospezialisten Peer Engelbracht und Stephan Komitsch agieren, und einen gläsernen Gang hinter den Krankenzimmern. Die projizierten Live-Videos – teils Bilder der handelnden Personen, teils Nahaufnahmen medizinischer Gerätschaften – verstärken erheblich den Eindruck, sich als Zuschauer mitten im Geschehen zu befinden. Die Blendung ¬Lears wird auf diese Weise im Zerdrücken zweier Hühnereier gespiegelt: eine beklemmende Darstellung von Brutalität, die ohne lächerliches Kunstblut auskommt.

Das Orchester ist nicht im Graben, sondern auf dem hinteren Teil der Bühne hinter einer halbtransparenten Wand platziert. Den fehlenden Blickkontakt der Solisten mit dem Dirigenten beheben die Subdirigentinnen Giulia Glennon und Xin Tan vorn an der Rampe. Mit dieser aufwendigen Veränderung hat das Produktionsteam die klangliche Balance zwischen Solisten und dem sehr stark besetzten Orchester hörbar verbessert: Stellenweise setzt Reimann die Instrumentalisten derart massiv ein, dass sich ein Solist kaum dagegen durchsetzen könnte.

So konnte dem Dirigenten Patrik Ringborg das beinahe Unmögliche gelingen, nämlich Reimanns Partitur bei aller Komplexität und Dichte doch immer wieder durchsichtig zu präsentieren. Die Intensität des musikalischen Ausdrucks war so bisweilen geradezu schmerzhaft gesteigert. Reimann ordnet dabei den Personen des Dramas eigene Farben zu – vom sanften Klang eines Streichquartetts bis hin zu vielfach oszillierenden Klangflächen und brutalen Schlagzeugattacken. Eine faszinierende Musik, die dem Text verpflichtet ist, seinen Gehalt auf stets nachvollziehbare Weise suggestiv ausdeutet.

Das gesamte Ensemble stellte sich dieser Aufgabe mit großem Einsatz auf sehr hohem musikalischem Niveau. Neben Espen Fegran seien hier stellvertretend Caroline Stein mit ihrem wunderschön lyrischen Sopran (Cordelia), Johannes An mit seinen mühelos erreichten Tenor-Höhen (Graf Kent) und der brillante Michael Hofmeister genannt, der in der Rolle des Edgar eine Tenorpartie, in der Verkleidung als wahnsinniger Tom eine Countertenor-Partie zu singen hat. Lona Culmer-Schellbach (Goneril) und Ruth-Maria Nicolay (Regan) agieren musikalisch wie darstellerisch überzeugend als machtgierige, abgrundtief böse intrigierende Schwestern Cordelias.

Wer sich dieser Oper stellt, darf keine musikalischen Streicheleinheiten erwarten, purer Wohlklang wäre bei einem Stoff wie „Lear“ wohl auch kaum angebracht. Das verursachte bei der Premiere etliche Lücken im Zuschauerraum nach der Pause. Doch die geblieben waren, zeigten sich nachhaltig begeistert – ebenso der 74-jährige Komponist, der zur Premiere aus Berlin angereist war und den Musikern eine Kusshand zuwarf.

 

Opernwelt, 25.10.2010

> Die leise Stärke
von Jürgen Otten

Ein Werk wächst. Wechselt Farbe, Form, Figur. Bleibt aber beständig, nur eben anders gefasst. In seinem wunderbar präzisen «Versuch über Musik und Sprache» hat der Philosoph Albrecht Wellmer den Gedanken einer während ihres Fortbestehens in der Welt sich stetig entwickelnden Partitur umschrieben. Diese, heißt es da, sei nicht schon das Werk, das in ihr gemeint ist. Auch die Aufführung könne nicht iden¬tisch mit dem Werk sein, «da sie ja nur eine von unzählig vielen anderen möglichen klanglichen Realisierungen einer Partitur, eben von Aufführungen des Werkes, darstellt». Folglich, vermutet Wellmer, sei das Werk nirgendwo als solches greifbar; «es» existiere nur, als niemals definitiv Fertiges, Vollendetes, wie der imaginäre Fluchtpunkt eines potenziell unabschließbaren Verweisungsspiels zwischen dem Notentext und seinen Realisierungen. 

Wie kaum ein zweites Musiktheater aus der zweiten Hälfte des 2Q. Jahrhunderts kann Aribert Reimanns «Lear» unter diesem Blickwinkel betrachtet werden, zählt diese Oper doch zu jenen seltenen Werken, die nach ihrem ersten Erscheinen weiterhin enorme Beachtung gefunden haben. Von der Uraufführung 1978 in der Bayerischen Staatsaper, mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle, bis heute wurde das Werk weit mehr als 20 «klanglichen Realisierungen» unterzogen. Wie unterschiedlich diese ausfallen können (und damit Wellmers These stützen), zeigte sich nun auch am Staatstheater Kassel. 

Dessen Generalmusikdirektor Patrik Ringborg hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Das Orchester sitzt nicht im Graben, sondern hinter der Szene, auf der Bühne, nur schemenhaft erkennbar. Der Klang zieht sich damit hinter das Geschehen zurück, drängt, anders als beispielsweise in den jüngsten maßgeblichen Aufführungen an der Oper Frankfurt und zuletzt an der Komischen Oper Berlin, nicht in den Raum hinein, sondern wirkt eher wie ein (allerdings durchaus dornenreiches) Gazetuch.
«Lear» als intimes Kammerspiel, das gleichsam das Gepräge des Phantasmagorischen trägt. Das Bruitistische ist dieser Partitur genommen, es waltet eine zerbrechliche piano-Kultur, die auf differenzierte Psychologisierung der einzelnen musikalischen Erscheinungen setzt. Ringborg entlockt dem Staatsorchester Kassel dabei Tonkonstellationen von immenser Intensität. Bis ins Fahle hinein dünnt er zuweilen den Klang aus, und nicht selten ertappt man sich dabei, wie einem ein Schauer über den Rücken fährt. Und dieser 5chauer, entwickelt er nicht seine stärkste Energie genau dann, wenn er leise und heimlich naht? 

Kurzum: eine beeindruckend insistierende musikalische Umsetzung, die vom Feingespür des jungen schwedischen Dirigenten für die lyrische Seite des Werks kündet. Natürlich profitieren auch die Sänger nachhaltig von dieser Musizierhaltung. Das Hysterische der beiden herrschsüchtigen Lear-Töchter Goneril (Lona Culmer-Schellbach) und Regan (Ruth-Maria Nicolay) wird so nicht ausgeblendet, doch umgefärbt. Diese Hysterie kommt auf samtenen Sohlen daher.- Die Vokalisen strömen freier, kleinste Nuancen werden hörbar. In diesem Kontext zeigt sich auch das Zersplitterte der Titelfigur aufs Deutlichste. Lear, wie ihn Espen Fegran mit hoher klanglicher Kultiviertheit singt, ist ein ebenso seniler, vom Tode gezeichneter wie ein milder Mann, der seinen Kampf um die Realität längst aufgegeben hat, ja im Grunde von Beginn an nach innen horcht und seine Stimme nur noch in liebender Zärtlichkeit der vor ihm verschwindenden Welt schenkt. 

Er ist mit diesem Gefühl nicht alleine. Auch Cordelia, die gute, von ihm fälschlich verstoßene Tochter, benötigt bei Caroline Stein kein outriertes vokales Gebaren, und ihr gleich agieren Edgar (mit schmalem, aber elastischem Countertenor: Michael Hofmeister), der Narr (gut ausbalanciert: Dieter Honig) und der Graf von Gloster (mit flüsternder Eindringlichkeit: Krzystof Borysiewicz) - als vor dem Lärm des Geschehens Flüchtende, sich beinahe still abwendende Wesen. 

So fein gezeichnet das musikalische Tableau, so schematisch (und auch zu ausgedacht) die Inszenierung von Paul Esterhazy im Bühnenbild von Mathis Neidhardt. Sie überwölbt die Oper mit einem über-psychologisierenden Konzept (dieser «Lear» spielt in einem Krankenhaus), das da und dort zwar durchaus reizvolle Kontextualisierungen (an)bietet, die Figuren letztlich jedoch auf ihre Obsessionen reduziert. Vom (Allzu)Menschlich-Abgründigen des «Lear» erzählt die Musik. 

Reimann: Lear. Premiere am 18. September 2010. Musikalische Leitung: Patrik
Ringborg. Inszenierung: Paul Esterhazy, Bühne: Mathis Neidhardt, Kostüme: Pia Janssen. Solisten: Espen Fegran (König Lear), Lona Culmer-Schellbach (Goneril), Ruth-Maria Nicolay (Regan), Caroline Stein (Cordelia), Michael Hofmeister (Edgar), Dieter Honig (Narr), Krzystof Borysiewicz (Gloster) u.a.

 

Opernnetz, 20.09.2010

> Macht und Zerstörung
von Christoph Schulte im Walde

Der König ist krank und alt. Am Ende seines Lebens liegt er in der Klinik – und mit ihm seine Vertrauten im Hofstaat: der Graf von Gloster und der weise Narr. Drei durch Vorhänge abgetrennte Krankenzimmer bilden das Zentrum von Mathis Neidhardts Bühne. In dieser Umgebung lässt Paul Esterhazy den Lear spielen, Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung. Hier entspinnt sich das Drama um den König, der sein Erbe an seine Töchter verteilt, von ihnen verstoßen wird und einsam stirbt.

Vielleicht sind die drei alten bärtigen Männer aber auch nur drei Facetten einer einzigen sich mehr und mehr selbst entfremdenden Persönlichkeit, denn sie sind sich äußerlich so ähnlich wie die Töchter und die Schwiegersöhne Lears, wie auch die Söhne Glosters: der treue Edgar und der intrigante Edmund – alle nur Seiten je eines Charakters? Esterhazys Deutung lässt auch diesen Schluss zu.

Diese tragische, von Lear selbst in Gang gesetzte Katastrophe verträgt die desillusionierende, nüchtern-klinische Umgebung. Ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung Esterhazys ist sein Umgang mit dem brutalen Plot. Die Blendung Glosters wird ebenso wie all die Morde nicht bluttriefend, gar reißerisch darstellt. Ganz im Gegenteil, oft wird die Gewalt nur angedeutet, ist zu erahnen. Mitunter wird das Grauen videomäßig bebildert: hier rohe Eier, die zerbersten, dort eine Spritze voll Blut, die sich über Zuckerwürfel ergießt. Die Botschaft ist klar, doch wird sie halbwegs schonend übermittelt. Gleichwohl steht außer Zweifel: hier geht es um Selbstzerstörung auf der einen, pures Ergattern der Macht auf der anderen Seite. Lear als zunehmend psychisch verwirrtes Individuum: in der Sturmszene des dritten Aktes spricht Lear von „dem Orkan in meinem Inneren“ – da ist kein Trost, keine Hoffnung.

Reimanns Lear, 1978 unter lautstarken Protesten uraufgeführt, wurde bereits wenige Jahre später neu inszeniert und gehört längst zu den meistgespielten und am häufigsten gezeigten zeitgenössischen Opern, also zum „Kanon“. Obwohl der Lear fraglos sperrig ist, ohne Lichtblick. Auch musikalisch stellt er höchste Ansprüche an die Rezipienten – an die Interpreten ohnehin.

Patrik Ringborg leitet mit größter Souveränität den Riesenapparat des Staatsorchesters, das auf dem hinteren Teil der Bühne sitzt. Da gibt es gewaltige Klangexplosionen – und das Gegenteil davon. Subtile Klangwirkungen von der einsam ihre Kreise ziehenden Bassflöte über das Streichquartett (die Begleitung des Narren), flirrenden Cluster der Streicher bis zum knalligen, von Schlaginstrumenten und Blechbläsern beherrschtem Tutti. Für genaue Koordination mit den Solisten sorgen Giulia Glennon und Xin Tan als Subdirigentinnen vom Parkett aus. Sie geben den Sängerinnen und Sängern genauestens ihre Einsätze.

Vorne vor dem Orchester wird agiert und gesungen. Espen Fegran stürzt sich mit Haut und Haar in die seelischen Zustände des König Lear – völlige Identifikation mit seiner Rolle, die er stimmlich überzeugend ausfüllt. Krzysztof Borysiewicz ist der Graf Gloster mit stets kontrolliert geführtem Bariton, Michael Hofmeister sein Sohn Edgar – als solcher Tenor, als vermeintlich Wahnsinniger namens Tom dann Countertenor, dessen großes Lamento unter die Haut ging.

Edmund, ebenfalls Glosters Sohn, der als Bastard gilt, wird von Rainer Maria Röhr mit all der nötigen Aggressivität und Verbissenheit ausgestattet. Stimmlich ist Röhr allerbestens disponiert, nachgerade eine Idealbesetzung.

Lears Töchter sind drei an der Zahl, Goneril und Regan die beiden, die es auf nichts als Macht und Besitz abgesehen haben. Lona Culmer-Schellbach und Ruth-Maria Nicolay meistern diese Partien mit all ihren technischen und musikalische Tücken ganz ausgezeichnet. Caroline Stein ist die dritte Tochter, Cordelia, die zu Beginn Verstoßene. Reimann charakterisiert sie völlig anders, nicht mit kantigen Koloraturen oder schroffen Intervallen sondern mit lyrischen Phrasen. Ausgerechnet sie ist es, die ihrem Vater im Angesicht des Todes all ihre Liebe und Zuneigung schenkt.

Das fabelhafte sängerische und darstellerische Niveau dieser Inszenierung setzt sich fort auch in den mittleren und kleineren Partien. Mario Klein gibt den König von Frankreich, Geani Brad den Herzog von Albany, János Ocsovai den Herzog von Cornwall. Johannes An ist ein perfekter Darsteller des Grafen von Kent, Dieter Hönig in der Sprechrolle des Narren. Aus dem Off kommt der Gesang der Männerstimmen des Opernchores (Einstudierung: Marco Zeiser Celesti).

Kassels Premierenpublikum teilt sich in zwei Lager: solche, die offensichtlich wissen, was auf sie zukommt – und solche, die dies nicht wissen und deshalb nach der Pause gar nicht erst wieder ihre Plätze einnehmen. Dabei war doch von vornherein absehbar, dass hier keine Komödie gespielt werden würde. Die, die geblieben waren, zeigten sich begeistert und brachten Orchester, Ensemble, Regieteam und auch dem auf die Bühne gebetenen Komponisten ihre Sympathien entgegen.

 

Ostthüringer Landeszeitung, 22.09.2010

> Auf der Intensivstation
von Evi Baumeister

Am Staatstheater Kassel wird Aribert Reimanns "Lear" zum musikalischen Pflegefall. Kassel. König Lear erschöpft in den Kissen, das Publikum ermattet in seinen Sitzen - so könnte man, grob verzerrt, die Premiere der Oper "Lear" von Aribert Reimann im Staatstheater Kassel skizzieren. Der Komponist war eigens angereist, um seinem in aller Welt gerühmten Werk beizuwohnen, das hier als konsequent klinisch gehaltenes Kammerspiel von Paul Esterhazy inszeniert wurde. Reimann bedankte sich aber vor allem für die musikalische Umsetzung beim Staatsorchester Kassel unter der souveränen Leitung von Patrik Ringborg. Dieser gewaltige, hinter einem Schleiervorhang berauschend, bestürzend und gleichermaßen akkurat wirkende Apparat nämlich war der eigentliche Garant des musikalisch qualitativ hochwertigen Abends, so achtbar sich auch das Sängerensemble im Vordergrund geschlagen hat. 

Um der klanglichen Balance zwischen Gesang und Orchester Willen und der Durchsetzungsfähigkeit der menschlichen Stimme gegenüber turbulentem Schlagwerk und erratisch aufgetürmten, oftmals stehenden Blech-Clustern; ferner um der Durchhörbarkeit der frei ausschwingenden Gesangspartien gegenüber komplizierten Streicherschichtungen hatte sich die Regie entschlossen, alle Instrumentalisten in den Bühnenhintergrund zu verbannen. Die Bretter selbst - "this great stage of fools" - boten nurmehr eingeschränkt Platz zur Einrichtung eines beklemmenden Klinikalltags. Der archaisch-schöne und gleichwohl brutale Kompositionswurf des "Lear" wurde gewaltsam in die Knie bzw. in die Betten einer Intensivstation gezwungen und mit Bilderhäufungen übertüncht. Visualisierung - ein Übel unserer Zeit - bemächtigte sich des Opernabends. Raum um zu hören blieb indessen kaum. 

König Lear zu entkleiden, ihn im OP-Hemd zu anonymisieren, seiner weltlichen Macht zu berauben, seiner menschlichen Würde zu entheben, ihn gleichzustellen in einer klassenlosen Patientengesellschaft - diese Idee sollte das Stück durchgängig tragen, und sie vermochte es trotz aller eingesetzten videotechnischen Mittel nicht. Zwar rückt das Publikum dem dreigeteilten Krankenlager bedrohlich nahe. Es bohrt seine Blicke, (ab)gelenkt durch das unausweichliche Zoomen der Kamera zwangsläufig auf die Gebrechen des mit Espen Fegran prächtig besetzten Lear und seiner graubärtigen Bettnachbarn. Zur Rechten der Narr (Dieter Hönig), zur Linken der Graf von Gloster (Krzysztof Borysiewicz). Doch bleibt man - vermutlich aus gesundem Selbstschutz - innerlich seltsam mitleidlos und distanziert, gleichwohl es im "Lear" um zentrale Fragen menschlicher Existenz geht, um Liebe, Tod, Rache und Vergeltung. 

Es ist der kalte Kosmos Krankenhaus mit seinen reibungslosen und doch zunehmend störanfälligen Abläufen, der das Einzelschicksal negiert, den Menschen zum ärztlichen Fall deklariert und sich kaum kümmert, ob und wie Lear sein Testament gestaltet. Seine Töchter Goneril (Lona Culmer-Schellbach) und Regan (Ruth-Maria Nicolay) reißen sich in hysterischer Präsenz um sein Reich. Sie treten wie ihre stimmlich eher blasse Schwester Cordelia (Caroline Stein) in einem Einheitslook von Versandhauskonfektion auf, der in seiner grauenvollen Alltäglichkeit die Grausamkeit ihres Vorhabens grotesk unterstreicht (Kostüme: Pia Janssen). Gleiches Bild nebenan: Die Söhne Glosters, Bastard Edmund (Rainer Maria Röhr), der in grobschlächtigen Schreiausbrüchen gegen seinen feingliedrig falsettierenden Bruder Edgar (Michael Hofmeister) intrigiert - auch sie sind in ihren billigen Lederjacken uniform. 

Man mag das Bild der Intensiv-Station mittragen, solange intensiv gelitten wird. Glosters Blendung als Livebild zerquetschter roher Eier im Sudelblutbad darzustellen, ist eine grandiose, verstörende Idee. Auch eignet sich der gläserne Besuchergang (Bühne: Mathis Neidhart) bestens, um achtlose Begegnungen zu illustrieren, harsch einherschreitendes Klinikpersonal in Szene zu setzen.

 

Kulturmagazin, 20.10.2010

> Reizüberflutung hoch drei
Aribert Reimanns Oper „Lear" eröffnete die Opernsaison
von Johannes Mundry

Man muss es dem Staatstheater hoch anrechnen, dass es die traditionelle Spielzeiteröffnung diesmal nicht mit einer sicheren Nummer bestritt. Nach „Simone Boccanegra", „Hoffmanns Erzählungen", „Salome", „Manon Lescaut" in den letzten Jahren, wurde die neue Saison mit Aribert Reimanns „Lear" aus dem Jahr 1978 be¬gonnen. Es wurde ein Abend, der den ganzen Kopf forderte, im Musikalischen eine Großtat des Opernhauses, das alle Kräfte gebündelt hatte. Das Orchester, nur durch eine transparente Wand vom Geschehen

Hunderte vertrackter Stellen
auf der Vorderbühne getrennt, bewältigte die Partitur, in der es kracht und zischt, hämmert und donnert, in der es aber auch innigste Stellen gibt, die, ist man einmal eingehört, nicht weniger bewegend sind als eine Händel-Arie oder eine Verdi-Kantilene, mit höchster Konzentration. Hunderte vertrackte Stellen, besonders im Blech und im Schlagzeug, verlangten exquisite Musiker und fanden sie in den hellwachen Musikern des Staatsorchesters. GMD Patrik Ringborg hatte die Sache souverän in der Hand. Zwei Subdirigenten übertrugen seinen Schlag, damit er für die Sänger sichtbar wurde. Für die Rollen hatte die Operndirektion eine glückliche Hand. Schlicht phänomenal sang Espen Fegran den bemitleidenswerten König Lear. Aus dem in der Summe hervorragenden Ensemble müssen mindestens noch drei weitere Rollen herausgehoben werden: Ruth-Maria Nicolay als Regan, Caroline Stein als Cordelia und Michael Hofmeister als Edgar.

Sichtbare Fragezeichen
Die Inszenierung jedoch, die Paul Esterhazy verantwortete, zeichnete sichtbare Fragezeichen auf die Gesichter des festlich gestimmten Premierenpublikums. Shakespeares „Lear", dem Reimanns Oper in weiten Zügen folgt, ist eins der dichtesten und schwärzesten Dramen der Weltliteratur. In Kombination mit der Musik des 74-jährigen Komponisten, der bei der Premiere anwe¬send war und am Ende sichtbar glücklich allen, vor allem dem Orchester dankte, ist bereits ein Grad an Komplexität erreicht, der weit über Wagner oder Richard Strauss hinausgeht. Dennoch fügte der Regisseur allem noch eine weitere Dimension hinzu. Statt in den vorgegebenen Schauplätzen, die ja auch Bestandteil der musikalischen Gestaltung sind (vor allem die Heide und die Klippen bei Dover), spielt sich alles in drei Krankenzimmern einer Klinik ab. Neben Lear in der Mitte belegen der Narr und der Graf Gloster identisch ausgestattete Räume. Und alle drei sehen gleich aus, sollen offenbar als psychische Teilbereiche derselben Person verstanden werden (sowie auch die drei Schwestern und deren drei Männer). Man versteht, dass sich das ganze Geschehen lediglich in der Rückschau des armen agonisierenden Königs abspielt: „Wer kann mir sagen, wer ich bin?", singt er in seiner tiefsten Verzweiflung.

Mit den Füßen
Damit nicht genug. Oberhalb der kargen, funktionalen Szenerie laufen Livevideos, die Bruchstücke medizinischer Laboruntersuchungen projizieren, die wiederum von stummen, kalt agierenden Ärzten durchgeführt werden. Die Reizüberflutung ist also total und lenkt letztlich auch wieder von der so präzisen Musik ab, die vieles zu erklären imstande wäre, wenn man sie nicht als Mittel zu einem letztlich nicht prima vista zu verstehenden Zweck instrumentalisieren würde. Ein nennenswerter Teil des Publikums stimmte darüber mit den Füßen ab: Etwa ein Drittel der Zuschauer erschien nicht mehr zum zweiten Teil, was in dieser Größenordnung in Kassel ein ziemlich einzigartiger Vorgang ist.