∨  Kritik    > Besetzung    > Fotos    > Info    > Video    > Inszenierungen


MK Kreiszeitung, 25.09.1918

Wagner ohne Widersprüche

„Siegfried“, dritter Teil des „Rings der Nibelungen“, in Oldenburg

Von Markus Wilks.

Der Höhenflug des Oldenburgischen Staatstheaters dauert an, denn „Siegfried“, der dritte Teil von Richard Wagners vier Musikdramen umfassenden „Ring des Nibelungen“, gelingt auf meisterhaftem Niveau. Orchester und Sänger holen am umjubelten Premierenabend (fast) alles aus der Partitur heraus, was möglich ist, und Regisseur Paul Esterhazy macht aus der netto vier Stunden dauernden Oper quasi ein kurzweiliges Theaterfest.

Wer hätte zu Beginn des Oldenburger „Rings“ gedacht, dass es möglich ist, Richard Wagners Weltendrama um Götter, Gold und Liebe so überzeugend in die Abgeschiedenheit eines Bergdorfes zu transferieren? Doch die Verkleinerung der Story in ein Alltagsdrama funktioniert tadellos, denn Wagners große Themen können uns auch dank der plastischen Charaktere unmittelbar bewegen.

Wotan ist im „Siegfried“ nicht mehr der vermeintlich große Gott, der den Lebensweg seines Enkels Siegfried zu seinem Gunsten zu steuern versucht, sondern eine Art Bürgermeister, der als „Undercover-Boss“ das niedere Volk besucht, um Menschen zu manipulieren und seine Macht zu sichern. Er trifft auf den versoffenen Alberich, der jedoch über eine gefährliche Intelligenz verfügt, und auch auf Siegfried, der ihm mit zu wenig Respekt entgegentritt.

Aus den Alltagsdialogen macht Regisseur Paul Esterhazy großes Theater, bei dem sich der Kenner des Werks regelmäßig über eine intelligente Umsetzung des Librettos freuen kann, zumal der Regisseur auch vermeintliche Kleinigkeiten auf die Bühne bringt, die meistens ignoriert werden: So schleppt Siegfried, nachdem er Mime und Fafner ermordet hat, beide in Einklang mit der Musik in die Höhle und erquickt sich – botanisch korrekt – unter Lindenblättern.

Vor allem aber erzählen Esterhazy und das vorzüglich einstudierte Solisten-Ensemble die Handlung widerspruchsfrei und kurzweilig. Kongenialer „Partner“ ist dabei wiederum die von Ausstatter Mathis Neidhardt entworfene Drehbühne, die sich fast dauernd in Fahrt befindet und unzählige filmische Überblendungen zwischen den einzelnen Zimmern des großen hölzernen Baus ermöglicht. Hier finden große Dramen wie Siegfrieds Auseinandersetzung mit dem zum Drachen mutierten Fafner und Brünnhildes Erweckung, aber auch liebevoll durchchoreografierte Vorgänge wie das Schmieden des Schwertes authentische Spielorte. Paul Esterhazys Konzept geht auch deshalb so gut auf, weil ihm mit Zoltán Nyári ein Siegfried zur Verfügung steht, der die starken und schwachen Seiten dieses angeblichen Helden gekonnt darstellt.

Und er verfügt über einen kraftvollen Tenor, der in der Premiere keinerlei Ermüdungserscheinungen kennt. Zwar gelingt ihm nicht jede Phrase in Vollendung, doch wie er zwischen zarter Lyrik und (in den Schmiedeliedern) stimmlichem Maximaleinsatz variiert, ist absolut hörenswert. Sogar gegen die „frische“ Brünnhilde, die erst 45 Minuten vor Ende der Oper zu singen beginnt, kann dieser Siegfried locker bestehen. Nancy Weißbach hat ebenso die nötige Power wie Zärtlichkeit in der Stimme, um das zwischen ekstatischem Liebesglück, Zukunftsängsten und Entdecken der eigenen Gefühle konstruierte Finale zu meistern. Als Wanderer (Wotan) gastiert mit Thomas Hall ein erfahrener, exzellenter Künstler, der seinen Heldenbariton kraftvoll und sonor einsetzt, sodass die Auseinandersetzungen mit dem „Wutbürger“ Alberich (Kihun Yoon mit vokalem Totaleinsatz und ebenfalls einer „Wotan-Stimme“ gesegnet) und Mime (Timothy Oliver mit starker Präsenz und textdeutlichem Charaktertenor) durchwegs spannungsvoll geraten.

Marta Swiderska (Erda mit klangvollem Alt), Sooyeon Lee (ein Waldvogel mit sicheren Koloraturen und guter Diktion) und – mit kleineren Abstrichen – Ill-Hoon Choung (Fafner) überzeugen ebenso. Das raumbedingt eher klein besetzte Oldenburgische Staatsorchester verblüfft durch das überwiegend souveräne Spiel und die zumeist hervorragende Aussteuerung der Instrumente.

Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann arbeitet die Details ebenso klangvoll wie markant heraus, so wie er die Musik stetig im Fluss hält. Dank der sängerfreundlichen Akustik des Bühnenbildes kann Vestmann sein Ensemble oft frei aufspielen lassen und tief in Wagners Klangkosmos einsteigen – das macht Eindruck. Fortsetzung folgt in einem Jahr mit der „Götterdämmerung“.


Opera Lounge, 09.2018

Von Wolfgang Denker

Grüße aus den Alpen – „Siegfried“ am Oldenburgischen Staatstheater

Richard Wagners Ring des Nibelungen am Oldenburgischen Staatstheater – das klingt abenteuerlich. Und es ist auch erstmalig, dass sich das Theater in seiner langjährigen Geschichte an die gesamte Tetralogie wagt. Seit der Spielzeit 2016/2017 ist Hendrik Vestmann neuer Generalmusikdirektor in Oldenburg, der sich den immensen Herausforderungen eines kompletten Rings stellt. Im April 2017 fiel mit dem Rheingold der Startschuss für dieses ehrgeizige Projekt. Inzwischen ist man beim Siegfried angelangt – und dem Oldenburgischen Staatstheater ist anerkennend zu bescheinigen, dass es die gewaltige Aufgabe bisher glänzend bewältigt hat.

Regisseur Paul Esterhazy entführt bei seinem Ring in die Welt eines alpinen, abgeschiedenen Bergdorfs in der Schweiz. Das wird vom Rheingold bis zum „Siegfried“ durchgehalten.

Wotan ist ein herrischer Bauer, ehemals der mächtigste Großgrundbesitzer des Dorfes. Seine Vormachtstellung bröckelt und so streift er verkleidet und mit einem angeklebten Bart durchs Dorf, um die Lage zu eruieren. Insbesondere will er nach seinem Enkel Siegfried schauen, auf den sich seine Hoffnungen für den Fortbestand der Macht setzen. Der wächst bei Mime, dem zwielichtigen und hinterhältigen Dorfschmied auf. Alberich ist Wotans trunksüchtiger Nachbar, Erda die Dorfälteste mit seherischen Fähigkeiten.

Wie schon im Rheingold und in der Walküre arbeitet Bühnen- und Kostümbildner Mathis Neidhardt intensiv mit der Drehbühne. Die vielen Räume mit dunklen Holzwänden gehen (fast filmisch) nahtlos ineinander über. Es ist ein wahrer Irrgarten, der hier auf die Bühne gewuchtet wird. der oft in geheimnisvolles Halbdunkel getaucht und von sanften Nebelschleiern eingehüllt wird. Obwohl Neidhardt dieses Gestaltungsprinzip seit dem Rheingold nicht verändert und nur in Einzelheiten variiert hat, ist die Faszination ungebrochen geblieben. Von besonderem, geradezu poetischem Reiz gelingt das Waldweben, bei dem die Weltesche in herbstlichen Farben und mit fallenden Blättern im Mittelpunkt der Bühne steht.

Die Personenführung von Paul Esterhazy ist auch im Siegfried bis ins kleinste Detail ausgelotet. Alle Figuren bleiben auch in dieser Bergwelt von archaischer Größe. Esterhazy weist in seiner Inszenierung auch sehr kunstvoll auf vergangene und auf zukünftige Elemente der Handlung hin. Alles greift sinnvoll ineinander über. Man spürt, dass Esterhazy bei seiner Regie die gesamte Tetralogie im Blick und den großen Zusammenhang konzipiert hat. So geisterte Erda bereits in der Walküre über die Bühne und im Siegried scharen sich bereits die Nornen um sie herum. Auch Loge hat hier im Siegfried einen stummen Auftritt, wenn er dem Wanderer das Feuer reicht. Grane ist (wie schon in der Walküre) ein Greis auf Krücken.

Der Zweikampf zwischen Fafner und Siegfried wirkt wie ein neckisches Lausbubenspiel. Fafner hat hier nicht die Gestalt eines Drachens. Den gibt es vorher in der Projektion eines echsenartigen Ungeheuers zu sehen, das bedrohlich ein Auge öffnet. Wenn Siegfried die auf einem Kaminsims gebettete Brünnhilde mit einem Kuss aus ihrem Dornröschen-Schlaf erweckt, scheint diese den Verlust ihrer Göttlichkeit zu ahnen, wenn sie sich auf Siegfried einlässt. Und so kann sie sich erst nicht entscheiden, in welchem der vielen Betten sie sich ihm hingibt.

Zoltán Nyári ist Siegfried. Mit nie versiegender Kraft und imponierendem Glanz singt er die Riesenpartie von den heroischen Schmiedeliedern über das lyrische Waldweben bis zum ekstatischen Finale ohne geringste Ermüdungserscheinungen und mit durchgängig schönem Ton. Mit dieser Leistung könnte er an den größten Häusern bestehen. Auch Nancy Weißbach ist eine Brünnhilde, die mit kraftvollem und leuchtendem Sopran mühelos über das Orchester tönt und keine Wünsche offen lässt. Auch darstellerisch ist sie absolut überzeugend.

Die Partie des Wotan/Wanderer ist bei Thomas Hall bestens aufgehoben. Sein voluminöser Bariton erfüllt die Anforderungen mit heldischem Glanz, seine Gestaltung ist bis in die großen Ausbrüche äußerst differenziert. Mit Kihun Yoon als Alberich hat er allerdings einen starken Gegner. Auch Yoon kann mit seinem wuchtigen Gesang überzeugen und wäre ebenfalls ein potentieller Wotan. Die Begegnung der beiden ist an dramatischer Spannung kaum zu übertreffen. Ein eindringliches Rollenporträt liefert Timothy Oliver als Mime. Mit seinem ausdrucksvollen Charaktertenor verdeutlicht er die Verschlagenheit der Figur punktgenau. Marta Świderska ist eine pastos klingende Erda, Ill-Hoon Choung mit profundem Bass ein bedrohlicher Fafner. Sooyeon Lee trägt als Waldvogel ihren schon in der Walküre zu sehenden Vogelkäfig grazil über die Bühne und singt die Partie mit bezaubernder Leichtigkeit.

Die Leistung des Oldenburgischen Staatsorchesters unter Hendrik Vestmann verdient höchste Bewunderung. Trotz reduzierter Besetzung kann ein überwältigender Klang realisiert werden. Dieser „Siegfried“ wird dabei dennoch mit feinsten Details musiziert. Seine Wiedergabe ist von sicherer Disposition für die dramatischen Momente ebenso geprägt wie von dem lyrischen Klangzauber des Waldwebens oder dem mit großem Atem genommenen Finale. Man darf sich jetzt schon ungeduldig auf die Götterdämmerung im nächsten Jahr freuen


NWZ, 24.09.2018

Feinfühlige Geschichte eines Haudraufs
Von Horst Hollmann

Lustig ist so ein Haudrauf-Leben, faria, fariaho! Da murkst Siegfried erst einmal dank lockerer Führung seines Schwertes Nothung den Riesen Fafner ab, den Schatzhüter. Er bringt Zwerg Mime um die Ecke, seinen Ziehvater. Den Stab Wotans, der dem Gott die Unantastbarkeit sichert, schlägt er zu Kleinholz. Doch dann kreuzt ihm Brünnhilde den Weg. Die aufgeweckte Walküre erweckt im bisher instinktsicher naiven Helden den Mann. Da bekommt er es mit der Angst zu tun.

Es ist viel los in den fünf Stunden des dritten Teils beim „Ring des Nibelungen” im Staatstheater. „Siegfried” gilt in der Tetralogie als technisch und psychologisch am meisten herausfordernde Oper. Die Halbzeit ist gerade rum, das Finale noch weit weg. Doch im ausverkauften Großen Haus in Oldenburg spürt niemand ein Nachlassen der Intensität. Auch dieser Teil rückt dem Publikum mit seiner stringenten Erzählweise dicht auf die Pelle.

Da ist zuerst die Regie. Paul Esterhazy irrt nicht auf Seitenwege ab. Sein „Ring” folgt dicht den Menschen in einem abgelegenen Bergdorf, ihren Antrieben und Verknotungen. Diese Gesellschaft erneuert sich nicht mehr aus sich selbst heraus oder durch fremde Anstöße. Das marode alte Göttersystem hat seine Führungskraft verloren. Der Regisseur bleibt so konsequent auf dieser Linie, dass er nicht einmal Fafner in den bekannten Drachen verwandelt. Schade ist das trotzdem.

Die Drehbühne verstärkt dabei das Gefühl, dass in dieser Enge die Erde als Scheibe wahrgenommen wird, dass der Horizont der Bewohner nur bis an ihren Rand reicht. Genau darüber aber entwickelt sich das Faszinierende dieser Inszenierung. Sie zeigt, dass Wagners Werk sich über die Grenzen der Innenwelt in universelle Größe entwickelt. Der Nibelungen-Schatz beschreibt keinen griffigen Mammon, sondern einen ideellen Wert. Doch der „Ring” und die Menschheit enden in einer Tragödie, weil das Streben nach Macht alles Gemeinsame zerstört, sogar die Liebe.

Ja, die Drehbühne – Mathis Neidhardt fügt den bekannten Zimmern und Innenhöfen dynamisierend neue Räume hinzu: herbstliche Naturflächen, dazu Labyrinthe mit Wänden und Schlafzimmern, durch die Siegfried seinen Weg finden muss. Es gibt lange Grundlinienduelle: Mime gegen seinen Zögling; der als Wanderer auftretende Wotan gegen den Rest der Welt; zwischen dem Helden und Brünnhilde. Doch immer findet die Bühne den auflockernden Dreh.

Und da sind vor allem die Sänger. Zoltán Nyáris Siegfried strotzt vor Kraft, kommt wirklich heldisch daher. Sein bezwingender Tenor entwickelt fast italienisches Belcanto, wenn er inmitten vieler rezitativischer Abläufe in Melodien eintauchen darf. Der Ungar, ebenso fest im Oldenburger Ensemble wie die meisten anderen, gewinnt auch dem Piano viele Nuancen ab.

Der pfiffig gedoubelte Zwerg Mime (Timothy Oliver) changiert mit seinem Tenor treffend zwischen Selbstmitleid und List. Mit-Zwerg und Gegenpart Alberich (Kihun Yoon) trifft mit seinem Hohn bis ins Mark. Thomas Hall als Wanderer/Wotan kultiviert die Bitterkeit über den Verlust der Hoffnung in seinem voluminösen Bariton. Ill-Hoon Choung (Fafner), Marta Swiderska (Erda), Nancy Weißbach (Brünnhilde) und Sooyeon Lee (Waldvogel) runden den mitreißenden Eindruck eines Ensembles ab, in dem jeder seine Rolle persönlich plastisch charakterisiert.

Feuer lodert nicht nur auf der Bühne. Hendrik Vestmann erzielt mit einem Staatsorchester in Hochform Sogwirkung. Bei aller Wucht setzt der Generalmusikdirektor die gliedernden Zäsuren und Atempausen, feilt die fragenden Motive zu, splittert den Klang vielfältig auf. Inmitten dramatischer Impulse weben etwa Joaquim Palet mit Siegfrieds Hornruf, oder Ruth Ellendorff mit dem Basstuba-Solo feine Muster ein.

Nein, ein Haudrauf-Stück ist dieser Siegfried nun gerade nicht.