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Frankfurter Rundschau, 1. 2. 2008

> Weg einer Seele in den Selbstmord
von Hans-Jürgen Linke

Frei nach Jules Massenets "Werther", eine Oper in vier Akten, inszeniert Paul Esterhazy das Musikstück im Stadttheater Gießen. Die Handlung verlegte er dabei vom späten 18. Jahrhundert des Sturm und Drangs, in die Gegenwart.
Eine einleuchtende Inszenierungs-Idee ist die Tatsache, dass Werther hier nicht Werther ist, sondern der fiktive Gießener Stadttheater-Maskenbildner Hanns-Werner Thärchen in den letzten Stunden vor seinem Sturz aus einem Hochhaus-Fenster. Dieser Umstand erscheint zunächst verwirrend, zeigt sich dann aber zunehmend als innovativer Aufführungsclou und gibt bereichernde Seitenblicke auf das melancholische Stück.
Thärchen ist ein Spätinfizierter des Werther-Fiebers. Er ist depressiv und träumt - mit Massenets Hilfe - von der Liebe zur Operndiva, von der Mutter, von der Frau des Anderen, von sich selbst als Kind. Er hat eine Werther-DVD aufgelegt, dirigiert manchmal versunken die Musik mit und bevölkert die Bühne mit seinen Fantasiefiguren, unter die sich manchmal auch ein stummes Charlotte-Werther-Paar im historischen Kostüm mischt.
Die vielschichtige Handlung, die die ersten beiden Akte zuweilen etwas überlädt und verrätselt, klärt sich nach der Pause, wenn bei reduziertem Personal die aktuelle Projektionsfläche des alten Stoffs klar und ohne weitere Schattenwürfe bleibt.
Fernando del Valle spielt den ergrauten Werther-Träumer in blauer Hose und gelbem Sweatshirt. Er lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass er der Verlierer sein wird. In seiner Innenwelt gibt es keine lineare Handlung, oft auch keine eindeutigen Rollen. Charlotte zum Beispiel, fabelhaft gespielt von Giuseppina Piunti, tritt in seinen Fantasien in vier verschiedenen Rollen auf.
Massenets Werther-Oper bleibt jedoch stets präsent und trotz teilweiser verwirrender Handlungsstränge, sind Teile der Opernhandlung zwar verfremdet, aber durch Musik dennoch erhalten. So kann man sich einerseits von der verlagerten Handlung und ihren verschrobenen Protagonisten verwirren und neugierig machen lassen und hat andererseits als unbeirrtes Halteseil die Musik.

Extrovertierte Klage

Denn dies ist die andere Seite der Inszenierung: Gesungen und gespielt wird ausgezeichnet. Del Valle ist ein hinreißend lyrischer Werther mit hochtraurig-tenoralem Schmelz. Er ist kraftvoll und extrovertiert gleichzeitig klagend und im Ausdruck immer noch steigerungsfähig. Guiseppina Piunti ist als Charlotte von ihrer Vielgesichtigkeit auch stimmlich stark gefordert.
Die Operndiva im dritten Akt liegt ihr sehr, und als alles bereuende Charlotte im Schlussakt hat sie ihren intensivsten Auftritt mit warm timbriertem, klarem und unaufdringlich lyrischem Sopran. Zu diesen beiden auch darstellerisch herausragenden Hauptrollen gesellt sich ein ausgezeichnet disponiertes Ensemble und ein äußerst feinsinnig eingestelltes Orchester, das in Sachen Farbigkeit, Dynamik und Dramatik nichts schuldig bleibt.
Pia Janssen hat für die vier Akte das Wohnzimmer des Maskenbildners aus vier verschiedenen Perspektiven als Guckkasten in 16-mal-9-Proportion wie einen großen Flachbildschirm in die Mitte der Bühne gesetzt und mit einer intelligenten Auswahl von Requisiten für den historischen Resonanzboden der Geschichte gesorgt.