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Hessische, Niedersächsische Nachrichten (HNA), 17.06.201

> Wenn man wüsste, wo das Böse wohnt
Paul Esterhazy balanciert Benjamin Brittens Oper "The Turn of the Screw" zwischen Zeigen und Andeuten

von Werner Fritsch



Ganz klar ein Fall für den Psychiater. Und so lässt Regisseur Paul Esterhazy den Prolog zu Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“ (Die Drehung der Schraube) in seiner Kasseler Inszenierung von einer Sigmund-Freud-ähnlichen Figur singen (Gideon Poppe).
Ein stummes Double des Seelenkundlers wird immer wieder ratlos die Szenerie dieses düster-geheimnisvollen Kammerspiels durchstreifen.


Am Ende ist zwar der Vorhang nicht zu, doch viele Fragen bleiben offen. Henry James lässt in seiner gleichnamigen Erzählung eine junge Gouvernante auf einem englischen Landsitz zwei Kinder betreuen, Miles und Flora (Tizian Geyer und Mira Meske). Schnell stellt sich heraus, dass mit den beiden etwas nicht stimmt.


Erzählungen der Haushälterin Mrs. Grose lassen vermuten, dass es zwei Verstorbene sind, der Ex-Verwalter Peter Quint (ebenfalls Gideon Poppe) und die frühere Gouvernante, Miss Jessel (Maren Engelhardt), die herumspuken und Macht über die Kinder haben. Anders als bei Henry James werden die Schattenfiguren in der Oper konkret: Mit Gesang wirken sie auf die Kinder ein.


Regisseur Esterhazy dreht die Schraube noch weiter: Quint und Miss Jessel sind als zwei nackte Doubles (Gunnar Seidel und Valeska Weber) fast ständig auf der Bühne präsent. Für die Akteure sind sie unsichtbar, und auch der Gesang kommt verdeckt von außen. Man ahnt: Hier muss sich Schreckliches ereignet haben.


Doch stimmt das auch? Wenn die Erscheinungen existieren, dann verkörpern sie die Macht des Bösen. Was aber, wenn es sich um krankhafte Fantasien der jungen, scheinbar unschuldigen Gouvernante handelte? Sie ist verliebt in den abwesenden Vormund der Kinder - dessen Bild Quint zeigt.

Sicher ist nur: Das Abgründige existiert, doch wer sind die Schuldigen, wer die Opfer? Angesichts aktueller Missbrauchsskandale sind die Fragen, die Britten in seiner vor 59 Jahren uraufgeführten Oper andeutet, von beunruhigender Relevanz.

In 16 Szenen spitzt sich die Handlung stetig zu. Szenisch ist das toll umgesetzt: Eine Wand hinter der kleinen Spielfläche zeigt eine englische Landschaft (Bühne und Kostüme: Pia Jansen). Mit wenigen Requisiten werden Innen- und Außenräume samt Durchblicken geschaffen. Eine strenge viktorianische Welt, in der die Geisterfiguren allein durch ihre Nacktheit bedrohlich wirken. Entscheidend für das Gelingen des Abends ist jedoch, dass Esterhazy virtuos die Balance hält zwischen Zeigen und Offenlassen.

Sängerisch ist es der Abend von Runette Botha, eine vieldeutig präsente Gouvernante mit feinen stimmlichen Extras. Stark auch Maren Engelhardt als eindringliche Stimme Miss Jessels und Gideon Poppe als singender Verführer Quint. Mit weichem Wohllaut versieht Lona Culmer-Schellbach die Haushälterin Mrs. Grose. Und einfach wunderbar singen und spielen die Kinder-Darsteller, Tizian Geyer von der Chorakademie Dortmund und Mira Meske vom Kasseler Kinderchor Cantamus.


Wie war's? 
Ein beklemmendes Stück, 
musikalisch und szenisch
 eindrucksvoll umgesetzt

Brittens komplex gearbeitete Musik für nur 14 Instrumentalisten (sie beruht auf einem vielfach variierten Thema von 21 Tönen) ist beim Dirigenten Alexander Hannemann und den Musikern des Staatsorchesters in guten Händen. Suggestive Klangwirkungen machen diese Oper für Fortgeschrittene zum Erlebnis. Warmer Premierenbeifall im nicht ganz ausverkauften Opernhaus.

 

Frankfurter Rundschau, 18.06.2013

> Jane Eyre gibt ihr Bestes
Die Geisteroper „The Turn of the Screw" von Benjamin Britten, schlicht intensiv am Staatstheater Kassel

von Judith von Sternburg



The Turn of the Screw": Seltsam die Schauergeschichte von Henry James (1898), seltsamer noch die Behandlung des Stoffes fast fünfzig Jahre später durch Benjamin Britten (auf ein Libretto von Myfanwy Piper), der den sexuell konnotierten Untergrund offener zutage treten lassen kann. Denn wodurch gewinnen ein verstorbener Kammerdiener und seine ebenfalls tote Geliebte, eine Gouvernante, als Untote so entsetzliche Macht über zwei Kinder? Was haben die Kinder damals gesehen oder erlebt?

Raffiniert bei James und Britten, dass aus Sicht der wackeren, zugleich verliebten neuen Gouvernante erzählt wird. Ihre handfeste Freundlichkeit macht sie dem Leser / Hörer zur verlässlichen Begleiterin, ihr bloß zu ahnendes Verliebtsein (in den unsichtbaren Vormund der Kinder) ist ihre geheime Schwachstelle. Zudem weiß sie so wenig wie wir. Jedoch hat Britten die Möglichkeit, der Not der von Geistern heimgesuchten Kinder musikalisch Ausdruck zu geben: In dem gruseligen „Malo"-Lied, das Miles immer wieder singt und das den Zuhörer in seine Albträume verfolgen soll (und verfolgt).


Fürchterliche Enge

Die Frankfurter Inszenierung von Christian Pade und seinem Ausstatter Alexander Lintl, gut zehn Jahre alt, hat die Maßstäbe in Sachen Geistererscheinung auf der Opernbühne mithilfe milchiger Doppelscheiben dramatisch hochgesetzt. Heillos verloren waren die Figuren auf der riesigen, sich wie die Schraube im Titel drehenden Bühne. 
In Kassel gibt es im Jahr von Brittens 100. Geburtstag aber eine interessante Alternative. Hier ist alles eng. Pia Janssen hat eine das Große Haus verkleinernde Bretterbühne bauen lassen. Die Figuren - oder ihre Doppelgänger, oder der „Psychiater", den Regisseur Paul Esterhazy als Beobachter einsetzt - bringen Mobiliar rein und raus, ruhig und planmäßig und als wäre es nicht das erste Mal. Durch die „Fenster" öffnet sich der Blick auf den schicksalshaften See, alles wirkt licht und doch staubig.

Bisweilen wimmelt es nur so von Personal: Zu den beiden hier stets nackten Geistern (von der Seite eingesungen) kommen Doppelgänger für die lebenden Erwachsenen, so dass sie sich selbst beobachten können, wie es ihnen nicht gelingt, das Richtige zu tun: Die Kinder zu retten, den Geistern Einhalt zu gebieten. Zuerst wirkt das, zumal im Frankfurter Vergleich, zu schlicht.

Dann nicht mehr. Denn Esterhazy und seine Sängerdarsteller, dazu Alexander Hannemann, der seine Musiker-combo extrem konzentriert durch die ebenfalls wie eine Schraube angedrehte Musik führt, sorgen gemeinsam für eine beklemmende Intensität. Die entspannte, aber für die Bekleideten naturgemäß anstrengende Nacktheit von Gunnar Seidel und Valeska Weber als die Untoten Mrs. Jessel und Peter Quint stößt schroff auf die hochgeschlossenen Kleider der Viktorianer. Dass nicht darüber gesprochen wird - weil es nicht im Text steht -, macht es noch besser. Nie könnte eine Gouvernante über so etwas reden.

Im Mittelpunkt steht Runette Botha als Gouvernante, äußerlich eine Jane Eyre, dabei wahnsinnig, aber nie übertrieben bei der Sache als Figur wie als Sängerin. Präzise äußern sich die Geister, Maren Engelhardt und Gideon Poppe, aus der Kulisse. Für die Kinder ist eine gute Besetzung gelungen (Tizian Geyer aus dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund und Mira Meske vom Kinder- und Jugendchor Cantamus). Die Regie mutet ihnen nicht zu viel zu. Ihr Ernst und ihre Aufmachung als winzige Erwachsene, deren trübe Zukunft als verklemmte Bürger vorgezeichnet scheint, sagen genug.

 

Der Opernfreund, 14. 10. 2013

> Nackte Geister
von Ludwig Steinbach

Sie stellt einen wahrlich erstklassigen Beitrag zum Britten-Jahr 2013 dar: Die bereits im vergangenen Juni aus der Taufe gehobene Neuproduktion von „The Turn of the Screw“, zu deutsch „Die Drehung der Schraube“, mit der das Staatstheater Kassel dem Komponisten, der heuer gegenüber den berühmteren Jubilaren Wagner und Verdi etwas ins Hintertreffen geriet, seine aufrichtige Reverenz erweist. Jetzt erlebte diese rundum gelungene Produktion ihre erfolgreiche Wiederaufnahme.

Brittens 1954 im Teatro la Fenice, Venedig uraufgeführte Oper beruht auf der gleichnamigen, 1898 erstmals veröffentlichten Geistergeschichte von Henry James. Es geht um die Erlebnisse einer jungen Gouvernante auf dem englischen Landsitz Bly. Einzig unterstützt durch die alte Haushälterin Mrs. Grose soll sie sich dort um die beiden Waisenkinder Miles und Flora kümmern. Den Auftrag dazu hat ihr der Onkel und Vormund der beiden Kinder erteilt, in den sie sich verliebt hat. Bedingung für ihre Anstellung ist, dass sie ihn unter keinen Umständen kontaktiert und alle auftretenden Probleme allein bewältigt. Und solche gibt es genug. Denn die Geister der ehemaligen Gouvernante Miss Jessel und des alten Dieners Quint machen ihr das Leben ganz schön schwer. Mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen sie, sich der Kinder zu bemächtigen, was die Gouvernante vehement zu verhindern trachtet. Letzten Endes kann sie aber die Katastrophe doch nicht verhindern.

Brittens Musik mutet recht kammermusikalisch an. Im Graben sitzen lediglich dreizehn Spieler, woraus ein zeitweilig recht intimer Charakter resultiert. So z. B. gleich zu Beginn, als die Worte des Prologs nur von einem Klavier untermauert werden und der Focus demzufolge noch auf dem narrativen Element liegt. Nichtsdestotrotz drängt sich im Folgenden von Zeit zu Zeit bei dramatischen Ausbrüchen auch der Eindruck eines riesigen Orchesters auf. Herrliche Traumbilder wechseln mit ätherischen Stimmungen ab. Das sind aber nur zwei Aspekte von Brittens  interessanter und abwechslungsreicher Partitur. Er hat seine Oper symmetrisch in zwei Teile aufgespalten, die aus jeweils acht Bildern bestehen. Letztere wiederum sind durch fünfzehn Variationen voneinander abgetrennt. Obwohl das Hauptthema aus zwölf Tönen besteht, haben wir es hier nicht mit Zwölftonmusik zu tun. Britten setzt vielmehr auf Tonalität. Das Schraubenmotiv erfährt bei ihm eine klare Gliederung. Es ist aus sechs aufsteigenden Quartensprüngen aufgebaut, die durch absteigende Terzen miteinander verbunden sind. Diese Quarten winden sich über sämtliche zwölf Töne immer höher, so dass auch musikalisch der Eindruck einer sich drehenden Schraube entsteht. Diese pendelt ständig zwischen den Tonarten der Gouvernante (A-Dur) und Quints (As-Dur) hin und her. Diese Spiralbewegung der Musik erzeugt eine enorme Spannung und zieht sich unter oft asynchronen Rhythmen durch das ganze Werk. Schon zu Anfang lässt Britten damit rein musikalisch die Gouvernante und Quint gegeneinander antreten.

Dieses Aneinanderreiben zweier Tonarten hat eine ausgesprochen bitonale Struktur zur Folge, die zu den Hauptcharakteristiken der Oper gehört. Miss Jessel bewegt sich gerne zwischen den Paralleltonarten f-Moll und As-Dur, was insbesondere im ihrem Duett mit der Gouvernante im zweiten Akt der Fall ist, die hier ebenfalls durch f-Moll gekennzeichnet ist. Die musikalischen Charakterisierungen sind Britten vorzüglich gelungen. Der Anfang wirkt noch unbeschwert, die Gouvernante tritt zwischen C-Dur und D-Dur wandelnd in Bly ein. Aber schon wenig später kommt es beim Eintreffen des Briefes aus Miles’ Schule mit dem Einsetzen von a-Moll erstmals zu einer musikalischen Trübung. Im zweiten Akt steht die düstere und das tragische Ende vorausnehmende Nachttonart es-Moll öfters im Vordergrund. Am Ende schließt sich der Kreis. Bei Miles’ Tod ist Britten wieder bei der Ausgangstonart A-Dur angelangt. Des Weiteren springt ins Auge, dass die vom Komponisten gewählten Tonarten im ersten Akt durchweg aus den Tönen der weißen Klaviertasten gebildet werden, im zweiten Aufzug dagegen von den schwarzen Tasten bestimmt werden. Von A-Dur und As-Dur ausgehend schrauben sich die Tonarten immer weiter nach unten, wobei sie ständig b-Moll, die Tonart des Bösen, anstreben. Mit Blick auf die Tatsache, dass die beiden Geister, die sich hier im Gegensatz zu James’ Novelle auch artikulieren können und viel zu singen haben, immer stärker die Oberhand gewinnen, ist diese Vorgehensweise des Komponisten durchaus nachvollziehbar. Der Kampf zweier gegensätzlicher Welten wird offenkundig. Gut und Böse, Hell und Dunkel bekriegen sich. Klangfarblich zieht Britten die Grenze zwischen den beiden Bereichen mit Hilfe der Quint zugeordneten Celesta, die trefflich das magisch Lockende dieser Figur versinnbildlicht. Hier fühlt man sich etwas an die Klangdramaturgie von Mahlers Sechster Symphonie erinnert. Insgesamt hat Britten eine schwermütige Musik geschrieben, die den tristen Inhalt der Handlung aufs Beste unterstreicht. Alexander Hannemann bewies ein vorzügliches Gespür für Brittens Tonsprache, die er zusammen mit dem gut disponierten Staatsorchester Kassel in all ihrer Suggestivität sehr eindringlich und mit hohem emotionalem Gehalt vor den Ohren des Publikums ausbreitete.

Das Stück hat im Lauf der Zeit vielerlei Interpretationen erfahren. Bis heute ist nicht so recht klar geworden, ob es sich bei dem Ganzen nun um eine Geistergeschichte, um eine Halluzination der Gouvernante oder um ein Stück über Kindesmissbrauch handelt. Alles ist möglich. Paul Esterhazy hat für seine gelungene Inszenierung den psychologischen Zugang gewählt und erzählt die Geschichte in Form einer Rückblende als Wahn der Gouvernante, die bereits zu Beginn den toten Miles im Arm hat. In engem Bezug zu der Handlung steht Sigmund Freuds Bericht von Miss Lucy R, einer seiner Patientinnen, die sich unbewusst in den Vater der von ihr gehüteten Kinder einer entfernten Verwandten verliebt hat und nicht weiß, wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Dieser Essay des genialen Psychoanalytikers dient Esterhazy als Ausgangspunkt für seine Deutung. Bei ihm erscheint Freud persönlich auf der Bühne. Er singt den Prolog und beobachtet und analysiert im Folgenden das sich in Pia Janssens - von ihr stammen auch die gelungenen, altmodischen Kostüme - engem Bühnenraum, durch dessen Fenster man auf eine idyllische Landschaft mit einem naturalistisch anmutenden See hinausblickt, mit großer Stringenz ablaufende Geschehen. Da der Sänger des Prologs ja auch den Quint singen muss, hat der Regisseur den Psychiater im weiteren Verlauf der Handlung durch ein Double ersetzt. Um das Gespaltene in der Wahrnehmung der hier verrückten, mit manchmal etwas zwanghaften Bewegungen versehenen Gouvernante zu verstärken, hat er auch den übrigen Personen Doppelgänger an die Seite gestellt, wie es jüngst auch Frank Hilbrich in Mannheim bei derselben Oper - wir berichteten - gemacht hat.

Durch diesen genialen Schachzug seitens der Regie verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion miteinander. In dem stark beengten äußeren Raum, der von Umbaustatisten von Bild zu Bild ständig etwas variiert wird, entsteht eine geistige Zwischenwelt, in der sich nicht zuletzt durch Esterhazys ausgefeilte, dicht gedrängte Personenregie eine Atmosphäre von beklemmender Wirkung ausbreitet. Einfühlsam nimmt der Regisseur den Zuschauer bei der Hand und unternimmt mit ihm eine Reise durch die Psyche der Gouvernante, die zunehmend verstörter wird und Dinge sieht, die den anderen Personen verborgen bleiben, so die beiden fast stets präsenten Geister. Miss Jessel und Quint sind die ganze Zeit über splitternackt, was indes von Esterhazy in keinerlei Hinsicht als Provokation gemeint ist, sondern in geschickter Weiterführung seines Ansatzpunktes sogar ausgesprochen konsequent, logisch und äußerst stimmig erscheint. Inmitten der altmodischen, streng viktorianischen Kostüme der anderen Handlungsträger ist es gerade diese totale Nacktheit, die den beiden imaginären Astralwesen eine besondere Unheimlichkeit und regelrechte Dämonie verleiht und deshalb dramaturgisch großen Sinn macht. Selten hat man eine Inszenierung gesehen, in der die Nacktheit auf der Bühne so schlüssig und gut begründet war.

Der äußeren Nacktheit von Miss Jessel entspricht eine innere Entblößung der Gouvernante, wenn der Spiegel ihr einmal nicht ihr eigenes Gesicht, sondern das ihrer toten Vorgängerin zeigt, mit der sie ein intensives Zwiegespräch führt - ein ungemein starkes Bild, das genauso unter die Haut geht wie das vorangegangene, in der sich die Beteiligten an der Gruft von Miss Jessel und Quint ein Stelldichein geben. Insbesondere die diabolischen Züge des ehemaligen Dieners werden durch seine Identifikation mit dem Teufelsgeiger Paganini noch intensiviert. Zu diesem Zweck gibt der Regisseur ihm zwar keine Geige, aber immerhin ein Cello in die Hand. Und wenn er während des traurigen, Unheil verheißenden „Malo“-Gesangs des kleinen Miles dasselbe Wort mit Kreide an die Schultafel schreibt, kann an dem tragischen Ausgang kein Zweifel mehr bestehen. Durch derartig imposante visuelle Impressionen wird der triste Charakter, dem Esterhazy und sein Team dem Ganzen zugrunde legen, nur noch verstärkt. Letztlich kann aber sogar Freud nicht mehr helfen. Seine Versuche, die Gouvernante von ihrer psychologischen Störung zu heilen, sind schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sich das innere Wesen der Gouvernante jeglicher tiefschürfenden Psychoanalyse entzieht. Das alles wurde von Esterhazy mit großer Stringenz und spannend umgesetzt.

In der Umsetzung seines Konzeptes fand er in den aufgebotenen Sängern und Statisten hervorragende Partner. Sie alle liefen rein darstellerisch zur Höchstform auf. Hier ist an erster Stelle die famose Runette Botha zu nennen, die voll in der Rolle der von ihr sehr intensiv und impulsiv sowie mit hoher emotionaler Ausdruckskraft gespielten Gouvernante aufging. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem gut focussierten, tiefgründigen und höhensicheren Sopran voll zu überzeugen. Treffliche Unterstützung fand sie im Gouvernanten-Alter-Ego Franziska Schwedes . Maren Engelhardt legte die Miss Jessel mit trefflich gestütztem, sonorem Sopran rech dramatisch an. Gideon Poppe als Quint und Prolog klang dagegen ziemlich dünnstimmig. Während die beiden Sänger konzeptgemäß aus dem Off heraus sangen, agierten die stummen Nackedeis Astrid Weigel und Till-Ulrich Herber eindrucksvoll auf der Bühne. Als Freud-Double bewährte sich Pablo Schelter. Mit insbesondere in der Höhe etwas variablem Stimmsitz sang Lona Culmer-Schellbach die Mrs. Grose, die Doppelgängerin der Haushälterin war Melitta Schäffer. In jeder Hinsicht erfreulich waren auch die Leistungen der beiden Kinder Sophie Geismann und Matthias Gude in den Rollen der Geschwister Flora und Miles.

 

Waldeckische Landeszeitung, 15.10.2013

> Benjamin Brittens süße Unheilsmusik
Grusel-Oper „The Turn of the Screw“ im Staatstheater - Schlüssige und symbolstarke Inszenierung
von Armin Hennig


Nacktes Grauen diese Wendung wird in Paul Esterhazys Inszenierung von Benjamin Brittens subtiler Grusel-Oper „The Turn of the Screw“ Bühnenwirklichkeit. 

Der Regisseur lässt die Gespenster Peter Quint und Mrs. Jessel, die nicht für alle Beteiligten sichtbar sind, wohl aber die Folgen ihrer Einflüsterungen, in Form in Form zwei nackten Darstellern (Valeska Weber/Gunnar Seidel) aktiv werden. Die beiden Geister greifen an zentraler Stelle ins Geschehen ein oder stiften die beiden Kinder Miles (Tizian Geyer) und Flora (Mira Meske) zu allerlei Untaten an. 

Die fehlende Bekleidung verhängnisvollen des Paares soll den anderen Status der Gespenster deutlich machen und tatsächlich sorgen ihre Momente für eine surreale Atmosphäre auf der Szene, eine Wirkung, die Brittens süße Unheilsmusik massiv verstärkt. Die nackten Gespenster, denen Maren Engelhardt und Gideon Poppe eine klagende und lieblich nach Mitleid heischende Stimme aus dem Graben geben sind der offensichtlichste Teil einer durchgängig schlüssigen und symbolstarken Inszenierung, bei der im ersten Akt in jeder Szene ein Bild oder Gegenstand auf ein zentrales Element der nächsten voraus weist. So spielt Miles in jener Szene, in der von seinem Schulverweis die Rede ist mit einem Holzturm, an dessen realem Gegenstück die Gouvernante (Runetta Botha) im folgenden Bild ihre erste Begegnung mit dem Geist von Peter Quint haben wird. Eben jener Peter Quint, den die Gouvernante im weiteren Verlauf als den Urheber des auch altersmäßig unangemessenen Verhaltens des sonst so braven Jungen ausmachen wird, als weibliches Gegenstück ist Mrs. Jessel für Floras Ausbrüche verantwortlich. 

Das sich durch die Szenen ziehenden Puzzlespiel mit Bildern und Gegenständen sorgt beim Zuschauer für Aha-Effekte und Entdeckerfreude, zugleich verhindert das Detektivspiel auch das Abgleiten oder zwischenzeitliche Verdämmern in Brittens impressionistische Klangwelten, während sich das Unheil langsam aufbaut, das sich schon bei den ersten Takten ahnen lässt. Denn zu Beginn sitzt die Gouvernante mit einem toten Kind auf den Schenkeln am rechten Rand der Spielfläche (Bühne und Kostüme Pia Janssen), ehe sie der Psychiater (Gideon Poppe) aus dieser Stellung erlöst und das Geschehen als Rückblende seinen Lauf nimmt. (Dieselbe Ausgangsposition wählte Jack Clayton in „Schloss des Schreckens“, der Verfilmung der Novelle von Henry James mit Deborah Kerr, die vielen Lesern jenseits der 40 noch ein Begriff sein sollte.) 

Die Frage, ob die Vorfälle mit den Gespenstern tatsächlich passiert oder nur Wahnvorstellungen der labilen Gouvernante sind, die den Jungen bei ihrem Exorzismus tötet, lässt Esterhazy offen. Als Randgestalt ist die Gouvernante auch in jenen Bildern präsent, in denen sie keine Rolle spielt. Etwa wenn Quint in der gespenstischen Gipfelszene den kleinen Miles dazu motiviert, ihren Brief an den Vormund mit der Schilderung der Vorfälle an sich zu nehmen.

Die Kasseler Opernproduktion holt vielleicht nicht das erste Gruseln von „Schloss des Schreckens“ ein, sorgt aber in jeder Hinsicht für nachhaltige Eindrücke. Großen Anteil am rundum stimmigen Eindruck hat das Dirigat von Alexander Hannemann, der sämtliche Nuancen des erst vom Grauen durchsetzten Idylls bis über rhythmisch-schroffen aggressiven Klangmassen des Gespenster-Triumphs bis hin zur finalen Passacagila-Tragödie im a-moll-Halbdunkel zum erklingen bringt.

Runette Bothas Gouvernante ist als leidende, unsichere Person angelegt, die es ihrem Auftraggeber, dem abwesenden Onkel in jeder Hinsicht recht machen will und aufgrund der Vorfälle, auf die sie sich einen ganz bestimmten Reim macht, in Konflikte kommt. Lona Culmer-Schellbach hatte als gutmütige und gespensterblinde Verwalterin Mrs. Grose zunächst den heiteren Part, wenn sie der besorgten Gouvernante volle Unterstützung beim Entschluss erst einmal nichts zu tun zusichert. Gideon Poppe lässt mit seinem Tenor viel Liebesleid anklingen und erfüllt damit als Geist im Graben sämtliche Rollenerwartungen, nicht minder zuverlässig sind die Kinderstimmen von Tizian Geyer und Mira Meske, deren Klarheit durch keine Unreinheit getrübt wird.