Texte

∨ Ich nähere mich einem Kunstwerk wie einem Kreuzworträtsel
Paul Esterhazy im Gespräch mit Barbara Beyer

Barbara Beyer: Mit deiner Inszenierung der "Carmen" versuchst du, in Form choreographischer Bilder Momente der Anziehung und der Abstoßung, der Nähe und der Ferne zu beschreiben. Ein ganz und gar unpsychologischer Zugriff auf ein Werk, das von Leidenschaft durchdrungen ist…

Paul Esterhazy: Zumindest geht das Psychologische, die Gefühligkeit, in meiner Wahrnehmung der Welt unter. In meiner Weltsicht relativieren sich selbst die größten Leidenschaften in einem Großen und Ganzen und geben nur einen Farbpunkt in einem größeren Bild ab. Ich lasse mich da gerne von Robert Bresson, einem meiner Lieblingsfilmregisseure, leiten, für den “alle Gefühle aus der Mechanik und aus der Zurückhaltung und nicht aus einer künstlichen Erregung kommen“. Und angesichts dieser Überfülle der immer zufälliger werdenden Informationen setzt meine geradezu verzweifelte Suche nach einem Ordnungsprinzip ein. Viele Menschen suchen derlei ja mit Hilfe der Metaphysik; ich gehe den schwierigeren Weg, indem ich versuche, das Prinzip mit meinen bescheidenen Erkenntnismitteln selbst zu entdecken. Und so nähere ich mich jedem Kunstwerk erst einmal wie einem Kreuzworträtsel, von dem ich ja weiß, dass es ein Lösungswort gibt, wenn man nur lange genug sucht. Auch als Übersetzer von Lyrik habe ich mich meiner Aufgabe immer nur mit diesem Trick nähern können. Die Übertragung eines Gedichtes, zum Beispiel von William Blake, ist objektiv eigentlich unlösbar. Ich musste mir also einreden, dass es eine Lösung gibt, wie bei einem Preisausschreiben.

B. B. Hat Theater die Aufgabe, Lösungen anzubieten?

P. E. Ich selber suche Lösungen - für mein Leben. Theater ist das Medium, in dem ich arbeite, also “nütze“ ich es, um mit seiner Hilfe zu meinen Lösungen zu kommen.

B. B. Was versuchst du zum Beispiel mit Hilfe einer Oper wie Carmen für dich zu lösen?

P. E. Lösungen finde ich grundsätzlich in Stücken, bei denen ich eine mehr oder weniger verschlüsselte Darstellung unserer Welt, ja des Kosmos vermute. Bei der „Zauberflöte“ oder dem „Ring des Nibelungen“ ist das evident, bei anderen Werken wie der „Hochzeit des Figaro“, dem „Freischütz“ oder eben der „Carmen“, die so stark übermalt ist von Klischees und Aufführungstraditionen, muss man schon etwas genauer hinsehen. Für mich ist Bizets „Carmen“ wie der zur gleichen Zeit entstandene „Ring“ Wagners ein Abbild des Kosmos. Auch in Carmen ist eine Urformel versteckt - deren Formulierung benötigt keine Götter, keine hohe Sprache und viel weniger Zeit, bringt aber das Prinzip Werden und Vergehen genauso auf den Punkt. Man muss nur mit ordnender Hand den Blick freilegen. Und so kann man wahrscheinlich alle meine Inszenierungen verstehen: als den Versuch, in dem unentwirrbaren, chaotischen Durcheinander, das uns umgibt, den Blick auf des Pudels Kern zu lenken.

B. B. Wie hast du dich „Carmen“ genähert? Wie gestaltet sich überhaupt deine Suche nach der Lösungsformel?

P. E. Wie gesagt versuche ich zunächst, das Lösungswort zu finden, um mich dadurch leiten zu lassen. Und wenn das gefundene Lösungswort ein passender Schlüssel zum Stück ist, öffnen sich alle verschlossenen Türen wie von selbst. Es ist dann tatsächlich so, dass sich bei der Erarbeitung des Konzepts und erst recht bei der Probenarbeit die konkreten Lösungen in der Folge wie von selbst generieren.

B. B. Woraus besteht zum Beispiel bei „Carmen“ diese Lösungsformel?

P. E. Eigentlich aus drei Noten, besser gesagt, Takteinheiten: der punktierte Rhythmus, der aus dem Tanz herrührt und der uns aufeinander zu- und voneinander wegführt. Jeder denkt bei „Carmen“ an diesen Rhythmus, der wahrscheinlich am reinsten in der von Carmen bei ihrem ersten Erscheinen angestimmten Habanera erkennbar wird. Selbst der naive Carmen-Rezipient weiß sofort, worum es geht. Tanz. Mann und Frau. Anziehung und Abstoßung. Zwei Wesen treffen aufeinander. Und daraus entsteht etwas Neues, zum Beispiel neues Leben, oder es kommt zum Kampf, und einer stirbt. Tanz ist die einzige Kunstform, die dieses biologische Regenerationsprinzip der Paarbildung zum Wesen hat. Jeder Tanz ist eine Art Zeitraffer des biologischen Zyklus von Leben und Sterben. Auf eine „Carmen“-Inszenierung angewandt heißt das, es geht nur vordergründig um einen konkreten Kriminalfall mit Carmen und Don José im Zentrum. In der ungekürzten Aachener Inszenierung werden gerade die unwesentlichen, genrehaften, scheinbar der Konvention geschuldeten Nebenszenen, die mehr als die Hälfte des Stücks ausmachen, zu Trägern des eigentlichen Geschehens. Das Spiel von „stirb und werde“ findet eben überall, noch im kleinsten, also auch im selten zu hörenden Couplet des Morales statt. Der Zuschauer verliert die auskomponierte Haupthandlung wie in einem Suchbild immer wieder aus den Augen. Auch weil verschiedene Abzweigungen der Vorgänge angeboten werden. Da gibt es eine kindliche Hoffnung des Regisseurs, dass die tragische Geschichte auch anders ausgehen könnte.
Als Regisseur hat man außerdem die Chance, Varianten anzubieten. Ich habe zum Beispiel drei Akte lang nicht gewusst, ob Carmen am Ende umgebracht wird. Erst als wir im vierten Akt angelangt waren, wurde es allen klar: Sie stirbt und wird vielleicht wiedergeboren. Auf der einen Seite erschüttert uns der Tod eines Menschen zutiefst, vor allem weil er uns unsere eigenen Grenzen vor Augen führt. Andererseits wissen wir auch, dass das Sterben eine alltägliche, banale Angelegenheit ist. Ich versuche also, beide Seiten der Medaille gleichzeitig zu beleuchten. Ich zeige, dass alles ein Kommen und Gehen ist, ein Entstehen und ein Vergehen, also ein ganz undramatischer kreatürlicher Vorgang. Aber ich zeige gleichzeitig die Erschütterung, wenn es uns persönlich betrifft: Wenn ich hier im Garten ein Eichhörnchen durch die Gegend hüpfen sehe und miterlebe, wie es von der Katze erwischt wird, ist das ein Drama, das mich total erschüttert. Dieses Eichhörnchen ist unwiederbringlich tot. Zwischen diesen beiden Extremzuständen, der totalen Erschütterung und der größtmöglichen Gelassenheit, kann und muss ich auch auf der Bühne operieren, das interessiert mich. Ich trauere mit dem wahrhaftigsten Ausdruck um die getötete Carmen und sehe sie im nächsten Augenblick glücklich lachend den Applaus entgegennehmen. Sie wird sich abschminken und ein paar Tage später, womöglich in eine andere Mezzosopranistin transformiert, aufs neue leben und sterben. Und es ist natürlich vor allem der Musik bestimmt, dieses Perpetuum klarzumachen.

B. B. Bei Freischütz bestand dein Ansatz darin, ein bürgerliches Interieur des Biedermeier eins zu eins auf die Bühne zu bringen. Welcher Grundgedanke hat dich dabei bestimmt, denn ich gehe nicht davon aus, dass du das Theater zum Museum erklären wolltest.

P. E. Formal war das aber der Ansatz. Zumindest haben wir versucht, kein „geschicktes“ Bühnenbild zu bauen, sondern einen Raum wie eine Museumsinstallation akribisch zu rekonstruieren. Kein Möbelstück, kein Requisit, das nicht tatsächlich aus der Zeit des Biedermeier stammte. Das waren alles mit Zeit behaftete Artefakte, die wir mit den Möglichkeiten einer Theaterwerkstatt in einen funktionierenden Raum verwandelt haben, ohne dabei auf Sichtwinkel und Perspektiven Rücksicht zu nehmen. Und wir haben das Originallicht der Zeit benutzt, das heißt mit der bereitwillig kooperierenden Aachener Feuerwehr den ganzen Abend fast ausschließlich mit Kerzenlicht illuminiert. Was zur Folge hatte, dass über weite Strecken praktisch nichts zu sehen war. Es gab da ein wunderschönes Interieur, das aber kaum zu erkennen war. Das Publikum war nicht in der Lage, Details auszumachen, obwohl diese in pedantischer Akribie hergestellt worden waren. Auch hier war also der Suchbildcharakter von Anfang an sehr stark. Die Bühnenbildnerin Pia Janssen und ich haben den Freischütz in einen dunklen bürgerlichen Innenraum versetzt, weil wir diesmal das Lösungswort im Textbuch gefunden hatten. “Was die Augen sehen, glaubt das Herz.“ Die „Freischütz“-Handlung stammt ja - trotz der Camouflage des Dreißigjährigen Krieges - aus der Jahrhundertwende um 1800. Der kriminalistische wahre Kern des Librettos spielt sich im Beamten- und Kontoristenmileu ab. Uns hat diese Zeit der extremen Gegensätze interessiert: dieser Wechsel zwischen der Hoch-Zeit der Aufklärung und dem Zurückfallen in einen religiös bestimmten Aberglauben. ln dieser Zwischenzeit der philosophischen Verdunkelung der Gedanken haben wir das Stück angesiedelt.
Der Aachener „Freischütz“ war wie sein stoffgeschichtlicher Ahnvater ein kleiner, gedemütigter Schreiber. der in eine merkwürdige okkulte Verstrickung gerät. Max wird so seinerseits zum Vorgänger von Woyzeck und Franz K. Wir haben uns stark von der Literatur der Zeit leiten lassen. Am stärksten durch den „Geisterseher“ von Friedrich Schiller. Deswegen ist der Raum, in dem bei uns der „Freischütz“ spielt, der „Geistraum“, in dem derlei Gruselgeschichten damals entstanden sind und wo diese Oper auch hingehört. Ein trügerisch idyllischer Raum, akribisch rekonstruierte Biedermeier-Kostüme. Der Schrecken verbirgt sich in schönen Bildern.

B. B. Zumindest drückt es sehr genau die Ambivalenz dieser gemütlich, anheimelnden Welt und dem sich dahinter verbergenden Katastrophischen aus.

P. E. Ein gutes Beispiel, wie so ein Schlüsselwort einen bei der Hand nimmt und durchs Stück führt, ist auch die Lösung, die wir für die Wolfsschlucht-Szene gefunden haben. Wir haben uns dafür wieder in die Zeit begeben und festgestellt, dass es das Jahrzehnt der ersten kinematographischen Versuche war. Wir haben uns dann sehr intensiv mit der Laterna magica beschäftigt, einem im 18. und 19. Jahrhundert beliebten Unterhaltungsmedium, und mit Hilfe von Fachleuten die Methoden dieses einfachsten Projektionsapparates, eines Vorläufers der bewegten Bilder aus der Zeit vor der Elektrifizierung, untersucht, der mit gemalten und später auch photographierten Glasdiapositiven arbeitete. Schließlich haben wir uns bei der Herstellung der ganzen Wolfsschlucht die dokumentierten Mittel zu Nutze gemacht, die bei den Séancen um 1810 angewendet wurden, eine Mischung aus Naivität und technischem Know-how. die - wie belegt ist - im Einklang mit der in der damaligen Zeit bestehenden Bereitschaft der Menschen, sich täuschen zu lassen, massenhysterische Phänomene auslösen konnte.

B. B. Bei „Carmen“ wie auch beim „Freischütz“ hast du es vorgezogen, im vorgegebenen Bereich der Stücke zu verbleiben. Welche Rolle spielt für dich die Gegenwart? Meinst du, dass ein Zuschauer sich selbst die Brücke baut zwischen dem, was er da sieht, und der eigenen Erfahrung, oder wie hilfst du ihm dabei, diese Werke zu einem Heute in Beziehung zu setzen?

P. E. Die Gegenwart gibt es ja gar nicht. Die ist immer schon vergangen. Das merken wir Theatermenschen besonders stark, weil wir uns immer mit einer Verzögerung von bis zu mehreren Jahren äußern. Es gibt natürlich Zufälle. So hatte in Aachen die Uraufführung von Klaus Langs Musiktheaterwerk „die perser“, nach Aischylos, genau während des zweiten Irakkriegs Premiere. Kunst ist ja als Reaktor auf Zeitgeschehen eher träge. Deshalb sind Werke von hoher tagespolitischer Aktualität meist von geringerer Substanz. Bei „die perser“ haben wir dann auch behutsam vermieden, überdeutlich zu werden. Gerade weil ich das Gefühl hatte, es nicht mit einem Zeitstück von geringem Grenzwert, sondern mit einem bedeutenden Werk zu tun zu haben, das sich uns nur begrenzt erschließt. Und deshalb haben Pia Janssen und ich uns in diesem Fall entschlossen, diese verstörende Partitur nicht zu „interpretieren“, sondern bloß „abzubilden“. Der „Freischütz“ hingegen schien mir geeignet, das ziemlich beunruhigende Phänomen eines neu auftauchenden, allumfassenden Aberglaubens in der heutigen Zeit ansprechen zu können. Nashörnermäßig fühlt man sich mehr und mehr von Menschen umgeben, die plötzlich wieder in der Religion, oft in völlig wirrem metaphysischem Zeug ihre Antworten suchen. Für mich ist Theater immer noch ein Medium der Aufklärung. Und der „Freischütz“ ist ein wunderbar erhellendes Bild für eine bürgerliche, vernunftbetonte Gesellschaft, die sich plötzlich der Metaphysik beziehungsweise Esoterik bedient, um die Menschen zu manipulieren. Dieses Gefühl, dauernd manipuliert zu werden, ist für mich heute übergroß. Ich vermute darin eines der Hauptprobleme der Gesellschaft, in der wir leben. In meiner „Freischütz“-Inszenierung kann ein Zuschauer sehr genau die Mechanismen eines solchen Täuschungsmanövers entdecken. Auch das Publikum lässt sich ja in dieser Inszenierung durch die opulente Ausstattung täuschen und wird von mir auch manipuliert. Ich versuche, dem Zuschauer mit den Mitteln des Musiktheaters und einer nicht kontinuierlichen Erzählweise auf die Sprünge zu helfen, aber eben unter dem täuschenden Gewand einer überreichen Bebilderung.

B. B. Du setzt das Publikum einer Situation aus, von der du annimmst, sie entspräche der heutigen Realität, indem du die Ohnmacht der Menschen und die Undurchschaubarkeit der Vorgänge sinnlich bewusst machst.

P. E. Genau, die ganze Welt als Suchbild. Die Welt mit viel zuviel Informationen, aus denen ich mir meine Einsicht erst filtern muss. Und deshalb kommen Zuschauer auch mit völlig unterschiedlichen Erfahrungen aus meinen Inszenierungen heraus. Indem man den Menschen klarmacht, dass es keine eindeutigen Antworten gibt, praktiziert man eine zeitgemäße Form von Aufklärung. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Welt immer komplizierter wird und das Chaos selbst durch unsere Ordnung nur vermehrt wird. Dieses Bild ist für mich maßgebend.

B. B. Wie schätzt du die Qualität einer Partitur ein im Gegensatz zu einem Textbuch im Schauspiel zum Beispiel? Welche Rolle kommt der Musik zu?

P. E. Eine gelungene Oper ist ein Werk ohne Gegensätze, in dem Text und Musik einander bedingen. Die Partitur eines Meisterwerks entspricht dem Schaltplan der grauen Zellen seines Schöpfers, der ein kreatives Muster ergibt, dem man als Regisseur komplett vertrauen darf. Natürlich nicht in der naiven Weise, dass beim C-Dur-Akkord auf der Bühne alle glücklich sind und die Scheinwerfer angehen. Es ist ein eher unbewusstes Wahrnehmen dieses Musters. Daher spielt es fast keine Rolle, ob man affirmativ am Stücktext entlang oder gegen den Strich inszeniert. Das kreative Muster wird sich immer durchsetzen, egal, ob es als Bestätigung oder als Kontrapunkt wahrgenommen wird. Deshalb ist es für mich nicht überraschend, dass ich immer irgendwann feststelle - selbst wenn ich einen noch so radikalen Regiealgorithmus gefunden und realisiert habe -, dass der Komponist das Konzept eigentlich gekannt haben muss, weil er sich anscheinend genau nach meinem Prinzip verhält - bis in Details hinein. Das erfahre ich als eine nachträgliche Bestätigung meiner Methode. Bei einem Doppelabend von Purcells „Dido und Aeneas“ und der Oper „Medeamaterial“ von Pascal Dusapin (nach Heiner Müller) war der Schlüsseleinfall, beide Werke hintereinander mit völlig identischer sichtbarer Handlung ablaufen zu lassen, was bedeutete, beiden Werken erst einmal Gewalt anzutun. Denn es gab zwar große Gemeinsamkeiten - Dusapin hatte sein Werk als Pendant zu Purcells Barockoper konzipiert, also mit fast gleicher Spieldauer, ähnlicher Sänger- und Orchesterbesetzung; dazu kam, das in beiden Werken verlassene Frauen aus der Mythologie im Mittelpunkt standen. Aber von einer Synchronie der Vorgänge konnte nicht die Rede sein. Es gab auf der Bühne also drei Zustände: Passagen, die bei Stück A einen szenischen Sinn ergaben, solche, die bei Stück B einen Sinn ergaben, und eine Schnittmenge von Szenen, die in beiden Opern konkret Sinn machten. Es stellte sich nun bald heraus, dass das kreative Muster der beiden Werke ganz viele unbewusste Gemeinsamkeiten aufwies. Dusapin, der bei den Proben anwesend war, bestätigte, dass viele der unterirdischen Verbindungslinien zwischen den Werken ihm selbst nicht bewusst waren. So trat beispielsweise die männliche Hauptfigur in beiden Werken in der gleichen Sekunde auf. Es gab da offensichtlich eine erstaunliche Parallelität von Synapsenverknüpfungen zweier schöpferischer Gehirne, die hoffentlich ein Computer nie ausrechnen wird können. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit Metaphysik zu tun, sondern nur mit der Tatsache, dass menschliche Gehirne einander ähneln.

B. B. Du bist von Haus aus Jurist, was du erzählst, klingt in vielem wie eine Beweisführung von etwas, doch zu welchem Zweck?

P. E. Mir ist schon klar, dass man kreative Vorgänge nicht unter Beweis stellen kann. Aber Indizien darf man doch sammeln. Kunst entsteht zunächst einmal als Mutation, also planlos. Man müsste ja sonst wirklich gläubig werden. Beim künstlerischen Prozess gibt es nämlich immer wieder Erlebnisse, die man selbst nicht verantwortet hat, die weit über das hinausgehen, was man selbst in der Lage ist, bewusst herzustellen. Irgendwie wird man geleitet, und wenn man wie ich nicht das Bedürfnis hat, die Erklärung dafür in einer höheren Instanz zu suchen, muss man eben konstatieren, dass es Verknüpfungen gibt, die sicherlich nicht physikalisch exakt nachweisbar sind, die aber diesen Schöpfungsprozeß erklären und auch entzaubern helfen. Meine Erfahrung ist daher: Hat man die Steine erst einmal richtig aufgestellt, löst sich das Ganze von selbst. Das Stück nimmt einen bei der Hand. Was genau bei diesem Prozess passiert, liegt in der Grauzone von Erklärbarem und Unerklärbarem.

B. B. Von frühester Jugend, genau gesagt, mit elf Jahren, bist du allein in die Oper gegangen. Wie erklärst du dir dieses frühe Interesse?

P. E. Die Oper war meine Ersatzwelt. Ersatz für persönliche Nähe. Ich habe mir meine Freundschaften auf der Bühne und in der Literatur gesucht. Es war natürlich schwierig, mir diese Freiräume zu verschaffen, weil meine Eltern nicht begeistert waren, dass ich mich bis zu zweihundert Abende im Jahr in der Staatsoper und im Burgtheater herumgetrieben habe. Wahrscheinlich habe ich im Theater eine geordnete und vorhersehbare Welt gesucht. Ich bin in die gleichen Auführungen in kurzer Taktzahl immer und immer wieder gegangen. Verdis „Don Carlo“ habe ich innerhalb weniger Jahre an die dreißigmal gesehen. Mich hat die Möglichkeit fasziniert, Vorgänge, die man erlebt und nicht gleich begriffen hat, noch einmal erleben und in neuem Licht überprüfen zu können.

B. B. Welche ästhetischen Mittel stehen uns zur Verfügung?

P. E. Ich bin versucht zu sagen: alle. Das verbindet mich auch mit meinem gelernten Beruf der Jurisprudenz. Theater und Jura sind die einzigen Betätigungsfelder in der Gesellschaft, die mit jedem Bereich unseres Lebens in Verbindung geraten können. Diese Flexibilität im Kopf, die wir haben müssen, um auf ein neues Stück, eine neues Thema reagieren zu können, schlägt sich auch in den ästhetischen Mitteln nieder. Ich versuche, mir mit einem ästhetischen Konzept alles zu eigen zu machen, was heute zur Verfügung steht. Abgesehen von meinem Ordnungswahn sind meine Inszenierungen daher ästhetisch sehr offen.

B. B. Und dein Verhältnis zum Gesang im besonderen?

P. E. Die Vorstellung, dass ein gesungener Ton weiter als der gesprochene reicht, war mir immer bewusst: diese erstaunliche Fähigkeit der Menschen, aus eigener Kraft sozusagen von Almgipfel zu Almgipfel zu kommunizieren. Es hat für mich eine geradezu bildliche Dimension, dass eine Stimme so weit, so tief reichen kann.

B. B. Und man kann mit ihr auch schreien.

P. E. Genau, aber eine schreiende Stimme ist fast immer erbärmlich. Der gesungene Ton vermag “in die Tiefe des Herzens“ zu dringen. Der „Gott!“-Schrei des Florestan geht durch Mark und Bein, ein Schauspieler könnte das nie. Bloßer Schönklang der Gesangsstimme interessiert mich schon lange nicht mehr. Ein bestimmter Stimmfetischismus stößt mich heute sogar ab. Die glatte, technisch souveräne, austauschbare Stimme langweilt mich oft.

B. B. Welche Funktion erfüllt Oper heute?

P. E. Oper erfüllt sehr unterschiedliche Funktionen. Und viele dieser Funktionen sind mir sehr fern, etwa das Repräsentative, Museale, Elitäre, Kulinarische. Oper hat für mich eine echte Existenzberechtigung: ihre einzigartige Fähigkeit, den Menschen mit Haut und Haar zu vereinnahmen, mit allen Sinnen, selbst dem sechsten. Und das in viel existentiellerem Maße als der Film, der diese Totalvereinnahmung heute ja wirtschaftlich viel erfolgreicher praktiziert. Und nur darum lohnt es sich, an der Oper festzuhalten und diese anachronistische, unvernünftig arbeitsteilige Maschine am Leben zu erhalten. Weil diese Form von Komplettsensation nur im Opernhaus möglich ist.

(Das Gespräch wurde im März 2005 geführt. )

 

Erschienen im Jahr 2005 in:

Warum Oper? Gespräche mit Opernregisseuren. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Barbara Beyer. ISBN 3-89581-145-9, Alexander Verlag Berlin (Gespräche mit Sebastian Baumgarten, Calixto Bieito, Paul Esterhazy, Karoline Gruber, Claus Guth, Andreas Homoki, Tilman Knabe, Peter Konwitschny, Martin Kusej, Nigel Lowery, Peter Mussbach, Christof Nel, Hans Neuenfels, Sergio Morabito und Jossi Wieler)