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MK Kreiszeitung, 25.09.1918

Wagner ohne Widersprüche

„Siegfried“, dritter Teil des „Rings der Nibelungen“, in Oldenburg

Von Markus Wilks.

Der Höhenflug des Oldenburgischen Staatstheaters dauert an, denn „Siegfried“, der dritte Teil von Richard Wagners vier Musikdramen umfassenden „Ring des Nibelungen“, gelingt auf meisterhaftem Niveau. Orchester und Sänger holen am umjubelten Premierenabend (fast) alles aus der Partitur heraus, was möglich ist, und Regisseur Paul Esterhazy macht aus der netto vier Stunden dauernden Oper quasi ein kurzweiliges Theaterfest.

Wer hätte zu Beginn des Oldenburger „Rings“ gedacht, dass es möglich ist, Richard Wagners Weltendrama um Götter, Gold und Liebe so überzeugend in die Abgeschiedenheit eines Bergdorfes zu transferieren? Doch die Verkleinerung der Story in ein Alltagsdrama funktioniert tadellos, denn Wagners große Themen können uns auch dank der plastischen Charaktere unmittelbar bewegen.

Wotan ist im „Siegfried“ nicht mehr der vermeintlich große Gott, der den Lebensweg seines Enkels Siegfried zu seinem Gunsten zu steuern versucht, sondern eine Art Bürgermeister, der als „Undercover-Boss“ das niedere Volk besucht, um Menschen zu manipulieren und seine Macht zu sichern. Er trifft auf den versoffenen Alberich, der jedoch über eine gefährliche Intelligenz verfügt, und auch auf Siegfried, der ihm mit zu wenig Respekt entgegentritt.

Aus den Alltagsdialogen macht Regisseur Paul Esterhazy großes Theater, bei dem sich der Kenner des Werks regelmäßig über eine intelligente Umsetzung des Librettos freuen kann, zumal der Regisseur auch vermeintliche Kleinigkeiten auf die Bühne bringt, die meistens ignoriert werden: So schleppt Siegfried, nachdem er Mime und Fafner ermordet hat, beide in Einklang mit der Musik in die Höhle und erquickt sich – botanisch korrekt – unter Lindenblättern.

Vor allem aber erzählen Esterhazy und das vorzüglich einstudierte Solisten-Ensemble die Handlung widerspruchsfrei und kurzweilig. Kongenialer „Partner“ ist dabei wiederum die von Ausstatter Mathis Neidhardt entworfene Drehbühne, die sich fast dauernd in Fahrt befindet und unzählige filmische Überblendungen zwischen den einzelnen Zimmern des großen hölzernen Baus ermöglicht. Hier finden große Dramen wie Siegfrieds Auseinandersetzung mit dem zum Drachen mutierten Fafner und Brünnhildes Erweckung, aber auch liebevoll durchchoreografierte Vorgänge wie das Schmieden des Schwertes authentische Spielorte. Paul Esterhazys Konzept geht auch deshalb so gut auf, weil ihm mit Zoltán Nyári ein Siegfried zur Verfügung steht, der die starken und schwachen Seiten dieses angeblichen Helden gekonnt darstellt.

Und er verfügt über einen kraftvollen Tenor, der in der Premiere keinerlei Ermüdungserscheinungen kennt. Zwar gelingt ihm nicht jede Phrase in Vollendung, doch wie er zwischen zarter Lyrik und (in den Schmiedeliedern) stimmlichem Maximaleinsatz variiert, ist absolut hörenswert. Sogar gegen die „frische“ Brünnhilde, die erst 45 Minuten vor Ende der Oper zu singen beginnt, kann dieser Siegfried locker bestehen. Nancy Weißbach hat ebenso die nötige Power wie Zärtlichkeit in der Stimme, um das zwischen ekstatischem Liebesglück, Zukunftsängsten und Entdecken der eigenen Gefühle konstruierte Finale zu meistern. Als Wanderer (Wotan) gastiert mit Thomas Hall ein erfahrener, exzellenter Künstler, der seinen Heldenbariton kraftvoll und sonor einsetzt, sodass die Auseinandersetzungen mit dem „Wutbürger“ Alberich (Kihun Yoon mit vokalem Totaleinsatz und ebenfalls einer „Wotan-Stimme“ gesegnet) und Mime (Timothy Oliver mit starker Präsenz und textdeutlichem Charaktertenor) durchwegs spannungsvoll geraten.

Marta Swiderska (Erda mit klangvollem Alt), Sooyeon Lee (ein Waldvogel mit sicheren Koloraturen und guter Diktion) und – mit kleineren Abstrichen – Ill-Hoon Choung (Fafner) überzeugen ebenso. Das raumbedingt eher klein besetzte Oldenburgische Staatsorchester verblüfft durch das überwiegend souveräne Spiel und die zumeist hervorragende Aussteuerung der Instrumente.

Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann arbeitet die Details ebenso klangvoll wie markant heraus, so wie er die Musik stetig im Fluss hält. Dank der sängerfreundlichen Akustik des Bühnenbildes kann Vestmann sein Ensemble oft frei aufspielen lassen und tief in Wagners Klangkosmos einsteigen – das macht Eindruck. Fortsetzung folgt in einem Jahr mit der „Götterdämmerung“.


Opera Lounge, 09.2018

Von Wolfgang Denker

Grüße aus den Alpen – „Siegfried“ am Oldenburgischen Staatstheater

Richard Wagners Ring des Nibelungen am Oldenburgischen Staatstheater – das klingt abenteuerlich. Und es ist auch erstmalig, dass sich das Theater in seiner langjährigen Geschichte an die gesamte Tetralogie wagt. Seit der Spielzeit 2016/2017 ist Hendrik Vestmann neuer Generalmusikdirektor in Oldenburg, der sich den immensen Herausforderungen eines kompletten Rings stellt. Im April 2017 fiel mit dem Rheingold der Startschuss für dieses ehrgeizige Projekt. Inzwischen ist man beim Siegfried angelangt – und dem Oldenburgischen Staatstheater ist anerkennend zu bescheinigen, dass es die gewaltige Aufgabe bisher glänzend bewältigt hat.

Regisseur Paul Esterhazy entführt bei seinem Ring in die Welt eines alpinen, abgeschiedenen Bergdorfs in der Schweiz. Das wird vom Rheingold bis zum „Siegfried“ durchgehalten.

Wotan ist ein herrischer Bauer, ehemals der mächtigste Großgrundbesitzer des Dorfes. Seine Vormachtstellung bröckelt und so streift er verkleidet und mit einem angeklebten Bart durchs Dorf, um die Lage zu eruieren. Insbesondere will er nach seinem Enkel Siegfried schauen, auf den sich seine Hoffnungen für den Fortbestand der Macht setzen. Der wächst bei Mime, dem zwielichtigen und hinterhältigen Dorfschmied auf. Alberich ist Wotans trunksüchtiger Nachbar, Erda die Dorfälteste mit seherischen Fähigkeiten.

Wie schon im Rheingold und in der Walküre arbeitet Bühnen- und Kostümbildner Mathis Neidhardt intensiv mit der Drehbühne. Die vielen Räume mit dunklen Holzwänden gehen (fast filmisch) nahtlos ineinander über. Es ist ein wahrer Irrgarten, der hier auf die Bühne gewuchtet wird. der oft in geheimnisvolles Halbdunkel getaucht und von sanften Nebelschleiern eingehüllt wird. Obwohl Neidhardt dieses Gestaltungsprinzip seit dem Rheingold nicht verändert und nur in Einzelheiten variiert hat, ist die Faszination ungebrochen geblieben. Von besonderem, geradezu poetischem Reiz gelingt das Waldweben, bei dem die Weltesche in herbstlichen Farben und mit fallenden Blättern im Mittelpunkt der Bühne steht.

Die Personenführung von Paul Esterhazy ist auch im Siegfried bis ins kleinste Detail ausgelotet. Alle Figuren bleiben auch in dieser Bergwelt von archaischer Größe. Esterhazy weist in seiner Inszenierung auch sehr kunstvoll auf vergangene und auf zukünftige Elemente der Handlung hin. Alles greift sinnvoll ineinander über. Man spürt, dass Esterhazy bei seiner Regie die gesamte Tetralogie im Blick und den großen Zusammenhang konzipiert hat. So geisterte Erda bereits in der Walküre über die Bühne und im Siegried scharen sich bereits die Nornen um sie herum. Auch Loge hat hier im Siegfried einen stummen Auftritt, wenn er dem Wanderer das Feuer reicht. Grane ist (wie schon in der Walküre) ein Greis auf Krücken.

Der Zweikampf zwischen Fafner und Siegfried wirkt wie ein neckisches Lausbubenspiel. Fafner hat hier nicht die Gestalt eines Drachens. Den gibt es vorher in der Projektion eines echsenartigen Ungeheuers zu sehen, das bedrohlich ein Auge öffnet. Wenn Siegfried die auf einem Kaminsims gebettete Brünnhilde mit einem Kuss aus ihrem Dornröschen-Schlaf erweckt, scheint diese den Verlust ihrer Göttlichkeit zu ahnen, wenn sie sich auf Siegfried einlässt. Und so kann sie sich erst nicht entscheiden, in welchem der vielen Betten sie sich ihm hingibt.

Zoltán Nyári ist Siegfried. Mit nie versiegender Kraft und imponierendem Glanz singt er die Riesenpartie von den heroischen Schmiedeliedern über das lyrische Waldweben bis zum ekstatischen Finale ohne geringste Ermüdungserscheinungen und mit durchgängig schönem Ton. Mit dieser Leistung könnte er an den größten Häusern bestehen. Auch Nancy Weißbach ist eine Brünnhilde, die mit kraftvollem und leuchtendem Sopran mühelos über das Orchester tönt und keine Wünsche offen lässt. Auch darstellerisch ist sie absolut überzeugend.

Die Partie des Wotan/Wanderer ist bei Thomas Hall bestens aufgehoben. Sein voluminöser Bariton erfüllt die Anforderungen mit heldischem Glanz, seine Gestaltung ist bis in die großen Ausbrüche äußerst differenziert. Mit Kihun Yoon als Alberich hat er allerdings einen starken Gegner. Auch Yoon kann mit seinem wuchtigen Gesang überzeugen und wäre ebenfalls ein potentieller Wotan. Die Begegnung der beiden ist an dramatischer Spannung kaum zu übertreffen. Ein eindringliches Rollenporträt liefert Timothy Oliver als Mime. Mit seinem ausdrucksvollen Charaktertenor verdeutlicht er die Verschlagenheit der Figur punktgenau. Marta Świderska ist eine pastos klingende Erda, Ill-Hoon Choung mit profundem Bass ein bedrohlicher Fafner. Sooyeon Lee trägt als Waldvogel ihren schon in der Walküre zu sehenden Vogelkäfig grazil über die Bühne und singt die Partie mit bezaubernder Leichtigkeit.

Die Leistung des Oldenburgischen Staatsorchesters unter Hendrik Vestmann verdient höchste Bewunderung. Trotz reduzierter Besetzung kann ein überwältigender Klang realisiert werden. Dieser „Siegfried“ wird dabei dennoch mit feinsten Details musiziert. Seine Wiedergabe ist von sicherer Disposition für die dramatischen Momente ebenso geprägt wie von dem lyrischen Klangzauber des Waldwebens oder dem mit großem Atem genommenen Finale. Man darf sich jetzt schon ungeduldig auf die Götterdämmerung im nächsten Jahr freuen


NWZ, 24.09.2018

Feinfühlige Geschichte eines Haudraufs
Von Horst Hollmann

Lustig ist so ein Haudrauf-Leben, faria, fariaho! Da murkst Siegfried erst einmal dank lockerer Führung seines Schwertes Nothung den Riesen Fafner ab, den Schatzhüter. Er bringt Zwerg Mime um die Ecke, seinen Ziehvater. Den Stab Wotans, der dem Gott die Unantastbarkeit sichert, schlägt er zu Kleinholz. Doch dann kreuzt ihm Brünnhilde den Weg. Die aufgeweckte Walküre erweckt im bisher instinktsicher naiven Helden den Mann. Da bekommt er es mit der Angst zu tun.

Es ist viel los in den fünf Stunden des dritten Teils beim „Ring des Nibelungen” im Staatstheater. „Siegfried” gilt in der Tetralogie als technisch und psychologisch am meisten herausfordernde Oper. Die Halbzeit ist gerade rum, das Finale noch weit weg. Doch im ausverkauften Großen Haus in Oldenburg spürt niemand ein Nachlassen der Intensität. Auch dieser Teil rückt dem Publikum mit seiner stringenten Erzählweise dicht auf die Pelle.

Da ist zuerst die Regie. Paul Esterhazy irrt nicht auf Seitenwege ab. Sein „Ring” folgt dicht den Menschen in einem abgelegenen Bergdorf, ihren Antrieben und Verknotungen. Diese Gesellschaft erneuert sich nicht mehr aus sich selbst heraus oder durch fremde Anstöße. Das marode alte Göttersystem hat seine Führungskraft verloren. Der Regisseur bleibt so konsequent auf dieser Linie, dass er nicht einmal Fafner in den bekannten Drachen verwandelt. Schade ist das trotzdem.

Die Drehbühne verstärkt dabei das Gefühl, dass in dieser Enge die Erde als Scheibe wahrgenommen wird, dass der Horizont der Bewohner nur bis an ihren Rand reicht. Genau darüber aber entwickelt sich das Faszinierende dieser Inszenierung. Sie zeigt, dass Wagners Werk sich über die Grenzen der Innenwelt in universelle Größe entwickelt. Der Nibelungen-Schatz beschreibt keinen griffigen Mammon, sondern einen ideellen Wert. Doch der „Ring” und die Menschheit enden in einer Tragödie, weil das Streben nach Macht alles Gemeinsame zerstört, sogar die Liebe.

Ja, die Drehbühne – Mathis Neidhardt fügt den bekannten Zimmern und Innenhöfen dynamisierend neue Räume hinzu: herbstliche Naturflächen, dazu Labyrinthe mit Wänden und Schlafzimmern, durch die Siegfried seinen Weg finden muss. Es gibt lange Grundlinienduelle: Mime gegen seinen Zögling; der als Wanderer auftretende Wotan gegen den Rest der Welt; zwischen dem Helden und Brünnhilde. Doch immer findet die Bühne den auflockernden Dreh.

Und da sind vor allem die Sänger. Zoltán Nyáris Siegfried strotzt vor Kraft, kommt wirklich heldisch daher. Sein bezwingender Tenor entwickelt fast italienisches Belcanto, wenn er inmitten vieler rezitativischer Abläufe in Melodien eintauchen darf. Der Ungar, ebenso fest im Oldenburger Ensemble wie die meisten anderen, gewinnt auch dem Piano viele Nuancen ab.

Der pfiffig gedoubelte Zwerg Mime (Timothy Oliver) changiert mit seinem Tenor treffend zwischen Selbstmitleid und List. Mit-Zwerg und Gegenpart Alberich (Kihun Yoon) trifft mit seinem Hohn bis ins Mark. Thomas Hall als Wanderer/Wotan kultiviert die Bitterkeit über den Verlust der Hoffnung in seinem voluminösen Bariton. Ill-Hoon Choung (Fafner), Marta Swiderska (Erda), Nancy Weißbach (Brünnhilde) und Sooyeon Lee (Waldvogel) runden den mitreißenden Eindruck eines Ensembles ab, in dem jeder seine Rolle persönlich plastisch charakterisiert.

Feuer lodert nicht nur auf der Bühne. Hendrik Vestmann erzielt mit einem Staatsorchester in Hochform Sogwirkung. Bei aller Wucht setzt der Generalmusikdirektor die gliedernden Zäsuren und Atempausen, feilt die fragenden Motive zu, splittert den Klang vielfältig auf. Inmitten dramatischer Impulse weben etwa Joaquim Palet mit Siegfrieds Hornruf, oder Ruth Ellendorff mit dem Basstuba-Solo feine Muster ein.

Nein, ein Haudrauf-Stück ist dieser Siegfried nun gerade nicht.

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BR Klassik, 26.07.2018 Hier können Sie die Besprechung nachhören.

Aktuelle Kritik – "Der verschwundene Hochzeiter" von Klaus Lang
Die moderne Oper "Der verschwundene Hochzeiter" - eine Auftragskomposition des Grazer Komponisten Klaus Lang für die Bayreuther Festspiele - feierte am 24. Juli in der Reihe "Diskurs Bayreuth" in der Kulturbühne "Reichshof" Premiere. Jörn Florian Fuchs war für BR KLassik dabei.

von Uta Sailer

8 Min.


SWR 2 Cluster, 26.07.2018 Hier können Sie die Besprechung nachhören.

Kritik – „Der verschwundene Hochzeiter“. Oper von Klaus Lang in Bayreuth
Im Rahmenprogramm der Bayreuther Festspiele gab es in diesem Jahr die Uraufführung einer Oper von Klaus Lang. „Der verschwundene Hochzeiter“ basiert auf einer Sage, in der sich ein Reisender plötzlich um 300 Jahre versetzt findet.

von Julia Neupert

8 Min.

 

Abendzeitung, München,26.07.2018

"der verschwundene hochzeiter" von Klaus Lang im Reichshof

von Robert Braunmüller

Wer Kinder im „Star Wars“-fähigen Alter besitzt, kennt die Hologramme, mit denen in diesem Weltraumepos realiter in der Ferne weilende Personen an Videokonferenzen teilnehmen. Da flimmert es dann ein wenig. Die Bayreuther Festspiele haben diese Technik allerdings überraschenderweise besser drauf als das galaktische Imperium. In der Oper „Der verschwundene Hochzeiter“ erscheint neben dem Darsteller ein Doppelgänger, der vom Original kaum zu unterscheiden ist. Und man würde schwören, dass echter Kunstschnee auf die Bühne fällt, obwohl er auch nur projiziert wird. Man braucht eine gute halbe Stunde, um aus den hinteren Reihen der Kulturbühne Reichshof die geneigte durchsichtige Folie vor der Bühne zu entdecken. „Peppers Ghost“ nennt sich der schon im 18. Jahrhundert erfundene und mit Beamern perfektionierte Trick. Mit ihm werden heutzutage Stars zu Auftritten auf Kreuzfahrtschiffe gebeamt. In Bayreuth feiert er womöglich sein Operndebüt (Video: Friedrich Zorn).

Eine Geschichte voller Rätsel
Der Regisseur Paul Esterhazy setzt diese faszinierende Technik in seiner Inszenierung von Klaus Langs Kammeroper ein. „Der verschwundene Hochzeiter“ wurde am Tag vor der eigentlichen Eröffnung mit „Lohengrin“ im von Marie Luise Maintz kuratierten Rahmenprogramm „Diskurs Bayreuth“ uraufgeführt – als erste neue Oper der Festspiele seit der Uraufführung von Wagners „Parsifal“ anno 1882. Die Handlung von „der verschwundene Hochzeiter“ weist ein paar Gemeinsamkeiten mit „Lohengrin“ hat - den geheimnisvollen Fremden etwa. Aber sonst hält sich die 90-minütige Komposition fern von Anspielungen auf Wagners Mythenwelt und Musik. Zu allererst fallen beim Betreten der Spielstätte, einem ehemaligen Kino im Stadtzentrum, ein riesiger Satz Kuhglocken auf: Lang verarbeitet eine lokale niederösterreichische österreichische Sage, die sich um einen frisch verheirateten Mann dreht, der einer Gegeneinladung zu einer anderen Hochzeit folgt, auf der er etwas zu lange tanzt und von der er erst nach 300 Jahren wieder zurückkehrt, ehe er zu Staub zerfällt.

Ein Zeitsprung nach Schwarzweiss
Es ist Geschichte voller Rätsel. Der 1971 in Graz geborene Komponist hat sie in der für ihn typischen Langsamkeit vertont. Das Ensemble Ictus und der instrumental singende Chor Cantando Admont sitzen um das Publikum herum und hüllen es in minimalistische Klangflächen, die bisweilen mikrotonal aufgeraut werden. Das hat einen leichten Zug ins Mystische und Esoterische, das Hörer bisweilen polarisiert. Paul Esterhazys Inszenierung antwortet auf die Musik mit einer kongenialen Gelassenheit. Der fremde Gast, der den Hochzeiter zu sich einlädt, erscheint als Doppelgänger. Paul Esterhazy hat dafür die ideale Besetzung: die stumm agierenden, in Tracht gekleideten Zwillingsbrüder Jiri und Otto Bubenicek, die zugleich als Hologramme erscheinen. Sie agieren in einem kahlen Zimmer, in dessen Fenster überwiegend Bilder aus dem Gölsental erscheinen, aus dem die Geschichte stammt. Wenn die Zeit dreihundert Jahre springt, wechselt die Aufführung von Farbe in Schwarzweiss. Seit Jahren wird über Konzepte diskutiert, die Bayreuther Festspiele von der ewigen Wiederkehr der kanonischen Werke des Meisters zu erlösen.

Mit „Der verschwundene Hochzeiter“ wurde der Knoten zerschlagen: Das abgeranzte Kino erwies sich als ideale Spielstätte für Neue Musik. Klaus Lang hat eine Oper geschrieben, die jedem Festival für Neue Musik vorzeigbar wäre. Und die hoffentlich bald auch anderswo gezeigte Inszenierung macht aus einem alten Illusionisten-Trick aufregendes Musiktheater. Was will man mehr?


Neue Zürcher Zeitung, 26.07.2018

Bayreuther Festspiele: Da flieht Elsa lieber mit Horn und Ring

Zur Eröffnung des Wagner-Festivals bebildern Neo Rauch und Rosa Loy den «Lohengrin». Stimmiger als diese durch und durch hybride Produktion gerät allerdings die allererste Uraufführung der Festspiele seit anderthalb Jahrhunderten.

von Christian Wildhagen

Eines muss man ihr lassen: Sie hat ihr Haus im Griff. Jetzt, endlich, nach bald einem Jahrzehnt an der Spitze der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn der Start von Katharina Wagner, die 2008 für diese herausragende Position wenig mehr mitbrachte als eben ihren grossen Namen, war holprig und wurde dementsprechend von der Fachkritik mit Häme und teilweise brutaler Härte beurteilt. Doch nach der langen Ära ihres Vaters Wolfgang hat die mittlerweile vierzig Jahre alte Urenkelin Richard Wagners inzwischen genau das getan, was man von jedem Nachfolger in der Festspielleitung erwarten musste: Sie hat die Wagner-Festspiele, noch immer das traditionenschwerste und eigentümlichste Opernfestival der Welt, in jeder Hinsicht geöffnet – in der Kommunikation, in der medialen Vermarktung, auch punkto Zugänglichkeit und Breitenwirkung.

Wagners Festspielhaus auf dem Grünen Hügel erscheint heute kaum mehr als jener hermetische Kunstort für Eingeweihte, den orthodoxe Wagnerianer, diese delikate Spezies, lange darin erblickten. Die Festspiele – das war für ihr Fortbestehen unausweichlich – sind in der Gegenwart angekommen. Zwar hapert es noch immer an einer klar umrissenen Dramaturgie und einer dezidiert eigenen Ästhetik, die Bayreuth vom Mainstream der anderen grossen Bühnen in der Welt abheben würde. Indes hat Katharina Wagner mit dem immens erfolgreichen Projekt einer «Kinderoper», die heuer ebenfalls ins zehnte Jahr geht, immerhin starke Akzente in der Nachwuchsarbeit gesetzt. In dieser Saison ist nun ein weiterer Bau- und Meilenstein hinzugekommen: Zum ersten Mal seit der Premiere von Wagners «Parsifal», seit 1882, zeigt Bayreuth eine Uraufführung.

Neue Nebenspielstätte

Wegen der gestrengen Festspielsatzung, die das Festspielhaus der Musik des Meisters vorbehält, musste die Aufführung von Klaus Langs Auftragswerk «der verschwundene hochzeiter» allerdings im Kulturzentrum «Reichshof» stattfinden. Die sinnvolle und eigentlich geplante Kooperation mit dem unlängst zum Weltkulturerbe erhobenen Markgräflichen Opernhaus war zuvor an – wenig einleuchtenden – Denkmalschutzproblemen gescheitert. Doch mit dem «Reichshof», einem ehemaligen Kino in der Altstadt, strotzend vor atmosphärischer Patina, ist den Festspielen unverhofft eine überaus reizvolle Nebenspielstätte mit adäquater Akustik zugewachsen, die unbedingt für weitere Projekte erhalten werden sollte.

Klaus Lang hat sich für seinen rund hundertminütigen Einakter von einer Sage aus dem Gölsental in Niederösterreich inspirieren lassen, die – ungewöhnlich genug – eine Parabel ohne Lehre ist. Sie erzählt in archaischen, teilweise biblisch getönten Bildern von Schuld und Erlösung und vom Verschwinden eines Mannes, drei Tage nach der Hochzeit, in den Tiefen von Zeit und Erinnerung. Als der Mann – und wir mit ihm – aus der Bilder- und Zeitschleife wiedererwacht, kennt ihn in seinem Dorf niemand mehr. Dreihundert Jahre sind vergangen, und der abtrünnige Hochzeiter zerfällt zu Staub: «was sind wir als staub im wind», lautet der letzte Satz in Langs selbstverfasstem Libretto.

Lang hat zu dem vieldeutigen Geschehen eine auf die Sekunde genau durchgetaktete Musik komponiert, die deshalb nicht von einem Dirigenten koordiniert wird, sondern von digitalen Metronomen via Bildschirm im Zuschauerraum. Wundersamerweise bemerkt man all die dahinterstehende Konstruktion mit raffinierten Zahlenproportionen und Spiegelachsen beim Hören überhaupt nicht. Langs überwiegend neo-tonale, gleichermassen an New-Age- wie an Renaissanceklänge gemahnende Cluster-Musik entfaltet vielmehr einen verhalten anlaufenden, dann aber umso intensiveren Sog, eine Art meditativen Bewusstseinsstrom, der die Hörer – gelungenen Aufführungen des «Parsifal» durchaus vergleichbar – in tranceartige Schwebe versetzt und dennoch hellwach hält.

Kongeniale Inszenierung

Entscheidenden Anteil an dieser tiefenentspannten Spannung hat die wahrhaft kongeniale Inszenierung von Paul Esterhazy, der die palindromische Handlung gemeinsam mit dem Videokünstler Friedrich Zorn in einen betörend irrealen Raum entrückt. Die beiden bedienen sich dazu eines alten Theatertricks, der als «Pepper’s Ghost» in die Requisitenkiste eingegangen ist. Er lässt Videoprojektionen mithilfe einer transparenten, schräg zur Bühne aufgespannten Folie dreidimensional und so frappierend echt im Raum erscheinen, als wären sie real.

Esterhazy treibt ein virtuoses Spiel mit den projizierten Doppelgängerfiguren des Hochzeiters, der auf diese Weise immer wieder sich selbst begegnet, sich aufspaltet und wieder mit sich selber verschmilzt. Und er treibt es sogar auf die Spitze, indem er nach der Peripetie des Stückes, als die Zeit gleichsam rückwärts zu laufen beginnt, auch noch einen realen Doppelgänger von Jiří Bubeníček, dem Darsteller des Hochzeiters, auf die Bühne zaubert, nämlich dessen Zwillingsbruder Otto. Die beiden langjährigen Solisten der Hamburger Ballettkompanie sind perfekt in solchen Double-Rollen, denn sie sehen einander so ähnlich, dass man bald nicht mehr weiss, wer gerade wer ist. Hier sind die beiden zwar durch die Kostümfarben unterschieden, doch dies bricht den Reiz nur und potenziert ihn zugleich. Das Ergebnis ist denn auch weniger eine illusionistische Verwirrung der Sinne als eine zur Einsicht führende Verzauberung von Auge, Herz und Ohr – das Beste mithin, was ein Opernabend beim Zuschauer erreichen kann.

Die Gans, der man das Fragen verbot

Ein wenig mehr davon hätte man auch der eigentlichen Eröffnungspremiere gewünscht, der Neuinszenierung von Richard Wagners «Lohengrin» im Festspielhaus. Die Produktion war wegen des als Ausstatterduo beteiligten Künstlerpaares Rosa Loy und Neo Rauch bereits im Vorfeld Gesprächsthema in der Opernwelt – ebenso wegen mehrerer bemerkenswerter Absagen, darunter der ursprüngliche Regisseur Alvis Hermanis, der sich früh mit einer unsäglich politisch verbrämten Erklärung selber aus dem Spiel nahm, zudem Anna Netrebko für die Rolle der Elsa (sie soll dem Vernehmen nach nun 2019 in einigen Vorstellungen singen) sowie der Tenor Roberto Alagna, der beim Erlernen der Titelrolle nach eigenem Bekunden vor allem an der Sprache gescheitert war. Auch dies spricht indes für Katharina Wagners gewachsene Erfahrung in der Festspielleitung: dass sie solche Schläge ins Kontor mittlerweile, unbeeindruckt vom branchenüblichen Krisengeraune, recht souverän zu meistern versteht.

Mit dem in Zürich bestens bekannten Piotr Beczała hatte sie obendrein eine überaus glückliche Hand – er war vermutlich immer schon die bessere Wahl für die Titelpartie. Im merklich bei allen Beteiligten von Nervosität beeinträchtigten ersten Akt fehlt es Beczała zwar noch an vollem Glanz in der Höhe. Je negativer die Regie jedoch die Führer- und Erlösergestalt des Schwanenritters zeichnet, umso mehr Leuchtkraft gewinnt bei ihm die exponierte Lage bis zum vielstrapazierten hohen A, besonders eindringlich in der sensibel gestalteten Gralserzählung des dritten Aufzugs.

Beczała durchläuft damit eine ähnliche vokale Entwicklung, wie sie Anja Harteros bei ihrem Hügel-Debüt gestalterisch wohl bewusst verfolgt: Sie singt die Elsa anfangs mit einer eigenartig herben, etwas brüchigen Mädchenstimme und lässt die sprichwörtliche dumme Gans, der man das Fragen verbot, erst im Brautgemach zur selbstbewussten Frau erblühen. Erst hier, im dritten Akt, wird sie glaubhaft zu einer Erkennenden, die bewusst aus ihrer klischierten Rolle tritt und so diesmal sogar das Ende überleben darf. Das krude Geschehen durchschauend, sucht sie mit Ring und Horn im orangefarbenen Tornister schleunigst das Weite.

Übergewaltige Bilderwelt

Yuval Sharon, neben Harteros und Beczała der dritte Retter in der Not, hat noch ein paar mehr solcher Regie-Ideen im Köcher; sie haben freilich neben der übergewaltigen Bilderwelt von Loy und Rauch kaum eine Chance, sich theatralisch schlüssig zu entwickeln. Zum Glück bleibt Bayreuth das Debakel erspart, das sich die Bayerische Staatsoper unlängst mit der papierenen «Parsifal»-Bebilderung von Georg Baselitz einhandelte. Doch dass die offenbar tiefschürfend reflektierte, mit allerlei Romantik und Farbensymbolik angereicherte Szenerie und das über weite Strecken biedere, ermüdend oft auf die Zentralperspektive fixierte Stehtheater im weiten Bühnenrund sinnstiftend (und nicht bloss illustrierend) ineinandergriffen – davon kann auch hier keine Rede sein.

Viele handwerkliche Ungeschicklichkeiten wären dringend fürs nächste Jahr nachzuarbeiten, etwa die Licht- und vor allem die Chorregie. Da verharrt der – von Eberhard Friedrich auf überragende Textdeutlichkeit getrimmte – Festspielchor unbeholfen gestikulierend und winkend in zwei immergleichen Halbreihen wie zu weiland Wolfgang Wagners Zeiten. Der Beginn des zweiten Aktes versinkt dagegen vor abermals spektakulär gemaltem Rückprospekt à la Nolde und van Gogh nahezu im Dunkeln, während die Szene vor dem Münster wiederum im konventionellen Tableau erstarrt.

Die als Bayreuth-Rückkehrerin gefeierte Waltraud Meier versucht mit ihren kraftvollen, an einigen Stellen stimmlich chargierenden Auftritten als Ortrud immerhin zu retten, was an genuin theatralischer Spannung eben zu retten ist. Auch der gewohnt genau gestaltende Georg Zeppenfeld gibt dem König Heinrich über die Herrscherattitüde hinaus die Tiefe des stillen Zweiflers. Und nicht zuletzt Christian Thielemann, der «Lohengrin» zum ersten Mal auf dem Grünen Hügel dirigiert, setzt dem Auf und Ab der Szene eine erstaunlich feinsinnige, schon im traumwandlerisch zelebrierten Vorspiel subtil verschattete Lesart mit dem Festspielorchester entgegen. Gleichwohl, ein stimmiges Ganzes ergibt das alles nicht, vom hier so naheliegenden «Gesamtkunstwerk» zu schweigen. In Bayreuth war man damit schon entschieden weiter.


Süddeutsche Zeitung, 25.07.2018

In der Rätselwelt

Der verschwundene Hochzeiter. Wahn, Wirklichkeit und visuelle Dopplungen mischen sich unentwirrbar. "Der verschwundene Hochzeiter" thematisiert das neu Ankommen in einer festgefügten Gesellschaft.

von Egbert Tholl

Katharina Wagner blickt in die Zukunft, und im Rahmenprogramm hat Klaus Langs Oper "Der verschwundene Hochzeiter" Premiere

Sehr wahrscheinlich wird Valery Gergiev 2019 nicht die Münchner Philharmoniker bei "Klassik auf dem Odeonsplatz" dirigieren. Da muss er nämlich proben. In Bayreuth. Die Neuproduktion vom "Tannhäuser", bei der Tobias Kratzer Regie führen wird. Wie es die Bayreuther Festspielen schaffen wollen, Gergiev über Wochen an den Grünen Hügel zu ketten, verrät Katharina Wagner allerdings nicht bei der Pressekonferenz, dem alljährlichen Ritual am Vortag der Festspielpremiere. Aber bei ihr kann man sich sicher sein: Die hat einen Plan.

Und Ideen. Fürs nächste Jahr schreiben Feridun Zaimoglu und Günter Senkel ein Stück über Siegfried Wagner zu dessen 150. Geburtstag; die beiden hatten gerade eine Uraufführung bei den Nibelungenfestspielen in Worms, sind also ein bisschen im Thema drin. Und Anna Netrebko wird 2019 zwei Mal die Elsa in dem "Lohengrin" singen, der dieses Jahr Premiere hat. Obwohl bei diesem der geplante Lohengrin abhanden kam und ersetzt werden musste - Roberto Alagna sagte ab, Piotr Beczala sagte zu -, obwohl Yuval Sharon als Regisseur einspringen musste: Die Stimmung ist am Tag vor der Premiere tief entspannt. Christian Thielemann wird dann alle zehn festspieltauglichen Wagneropern hier dirigiert haben - für ihn kein Grund, auch nur den kleinsten Gedanken an ein Aufhören zu verschwenden. Lieber lobt er die "wunderbare Zusammenarbeit" mit Sharon, mit Neo Rauch und Rosa Loy, beide Kostüm und Bühne. Solche Mitstreiter habe er, Thielemann, noch nicht gehabt. Rauch, der Großkünstler als Bayreuth-Debütant, empfand die Atmosphäre auf dem Hügel als "permanenten Kindergeburtstag", jeder Wunsch sei ihm erfüllt worden. Vor sechs Jahren erhielt er die Anfrage und legte erst einmal eine "Lohengrin"-CD ein.

An Stelle von Yuval Sharon hätte eigentlich Alvis Hermanis beim "Lohengrin" Regie führen sollen. Mit sardonisch unergründlicher Stimme verliest Katharina Wagner dessen auf Englisch formulierte Absage. Nachdem er Ende 2015 seine Kritik an der deutschen Willkommenskultur geäußert habe, sei er (von der Presse) so kritisiert worden, dass er beschloss, lieber die Finger zu lassen von Deutschland und dessen offizieller Ideologie. Es gibt Absagen, über die man nicht traurig sein muss, und vielleicht trägt diese auch zur entspannten Atmosphäre in Bayreuth bei. Weitere Neuigkeiten: Im März reist der "Holländer" nach Tokio, im Januar gastiert das Festspielorchester mit einer konzertanten "Walküre" in Abu Dhabi, falls die richtigen Entscheidungen auf politischer Ebene fielen, sei man 2016 mit der Renovierung des Festspielhauses fertig und natürlich seien auch in diesem Jahre die Festspiele wieder mehrfach überbucht; dass noch Einzelkarten erhältlich sind, läge nur daran, dass man inzwischen Karten in Kommission zurücknähme, auch um den Schwarzmarkt einzudämmen.

Nun aber zum Eigentlichen, zu "Diskurs Bayreuth" und der ersten Uraufführung bei den Bayreuther Festspielen seit der des "Parsifals" 1882. Das diskursive Rahmenprogramm wurde im vergangenen Jahr erfunden, besteht aus Konzerten und einem Symposium - in diesem Jahr zu Verboten (in) der Kunst - und eben der Uraufführung der Oper "Der verschwundene Hochzeiter" des österreichischen Komponisten Klaus Lang. Ursprünglich war als Aufführungsort das renovierte markgräfliche Opernhaus geplant gewesen, aber die Schlösserverwaltung begreift dieses als Museum und nicht als Theater, Aufführungen sind dort nur in sehr geringen Dosen möglich. Die bornierte Haltung der Schlösserhüter bescherte dem Stück einen vielleicht viel geeigneteren Ort, den Reichshof, ein ehemaligen Stummfilmkino von 1926, das einen Zauber hat, als wäre es ein Bühnenraum von Anna Viebrock. "Der verschwundene Hochzeiter" ist ein völlig autonomes Kunstwerk, auch wenn man vage Bezüge zur diesjährigen Festspielpremiere "Lohengrin" herstellen kann, zur Frage des Fremden, des neu Ankommenden in einer festgefügten Gesellschaft. Wie das Fremde einen selbst verändert, das interessiert auch Lang, und sein Komponieren wie auch sein eigenes Libretto umkreisen die Frage in poetischen Schleifen. Konkret politisch ist "Der verschwundene Hochzeiter" nie.

Die Oper beruht auf einer Legende aus dem Gölsental in Niederösterreich. Ein Hochzeiter lädt einen Fremden zu seiner Hochzeit ein; dieser revanchiert sich mit einer Gegeneinladung zu seiner Hochzeit. Der Hochzeiter gerät in eine leicht metaphorische Rätselwelt, als er in sein Dorf zurückkehrt, stellt er fest, dass er 300 Jahre fort war, selbst nun ein Fremder geworden ist und zerfällt zu Staub. Lang macht daraus ein Vexierspiel der Identität, liest selbst zu Beginn mit weich alpenländisch singender Stimme die Legende vor; die liegt also subkutan unter den folgenden 90 Minuten, mithin kann Lang auf situative Konkretisierung verzichten. Mit feinsten Verästelungen malt er Klang in zarten Schichten, helltönend, irisierend, die Musiker des Ictus Ensembles und der Chor Cantando Admont verteilen mit bewundernswerter Präzision und hoher Schönheit den Klang im Raum, von der Empore singen ein Counter, Terry Wey, und ein Bass, Alexander Kiechle.

Sprache wird zu Klang, bleibt selten konkret, aber so entsteht ein sanfter Sog, der einen zu einem zarten Wahrnehmungsrausch verführt. Auf der Bühne selbst ist Zauberei, so eine Art Jahrmarktstrick, nur viel technischer, genannt "Pepper's Ghost". Man sieht zwei Tänzer in Gölsentaler Tracht, die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček, oder doch nur einen von ihnen und der andere ist Projektion, Spiegelung? Dann sind es auf einmal sechs oder sieben von ihnen, Hochzeitsgesellschaft, dann rauscht die Musik wie eine Gerölllawine hinab und der Tänzer verliert seine Farben, ist nur noch schwarz-weiß. Paul Esterhazys Inszenierung und Friedrich Zorns Video werden zusammen mit der genau getakteten Musik, die nur von einer Schaltuhr dirigiert wird, zu einem flirrenden Spiel mit der Zeit und der Realität, mal so rasant, dass man kaum hinterherkommt, dann wieder so ruhig, als breiteten sich konzentrische Kreise auf einem Moorsee aus. Immer aber: faszinierend.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2018

Alles immer wie immer?
Romantisches Motiv des Doppelgängers: Klaus Langs Oper „Der verschwundene Hochzeiter“, eine Auftragskomposition für Bayreuth.

Die Bayreuther Festspiele erleben ihre erste Uraufführung seit 1882 mit einer modernen Oper des Komponisten Klaus Lang. Festspielleiterin Katharina Wagner begegnet so dem Vorwurf, in Bayreuth bliebe alles beim Alten.

von Jan Brachmann

Den Bayreuther Festspielen, wo zumindest beim Repertoire seit mehr als hundert Jahren alles „immer wie immer“ ist, wurde genau diese Stabilität oft zum Vorwurf gemacht von jenen, die mit Beethoven glauben, das „Weitergehen“ sei in der Kunstwelt letzter Zweck. Katharina Wagner, derzeit amtierende Festspielleiterin und Urenkelin des Komponisten Richard Wagner, stellte sich diesem Vorwurf nun öffentlich und gab den Kritikern recht: Die Festspiele dürfen sich „nicht nur mit sich selbst beschäftigen“. Und so haben sie tatsächlich einen Kompositionsauftrag vergeben für die erste Uraufführung in ihrem Rahmen seit 1882, seit Wagners „Parsifal“.

Das Stück heißt „Der verschwundene Hochzeiter“. Text und Musik stammen von dem 1971 in Graz geborenen Komponisten Klaus Lang. Und weil die Stiftungssatzung – so Katharina Wagner – vorschreibe, dass im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel nur Werke Richard Wagners aufgeführt werden dürfen, und weil es „aus organisatorischen Gründen“ nicht möglich war, das neue Stück im wiedereröffneten Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth zu zeigen, musste man ins Kino „Reichshof“ ausweichen, was dem intimen, eher installativen Charakter der Produktion guttat.

Eine österreichische Sage liegt dem Stück – das sich „Oper“ nennt – zugrunde: Ein Bräutigam lädt einen Fremden zu seiner Hochzeit ins Dorf. Der Fremde kommt und erwidert die Einladung an den Bräutigam. Der macht sich einen Tag später zum Gegenbesuch auf, trifft mageres Vieh auf fetter Weide, fettes Vieh auf magerer Weide und befreit summende Bienen in einem einsamen Haus. Auf der Hochzeit fühlt er sich wohl, tanzt zweimal länger, als ihm erlaubt ist, und erfährt, dass es sich bei den Bienen und dem Vieh um Seelen in unterschiedlichen Stadien des Leidens und der Erlösung gehandelt habe. Als er in sein Dorf zurückkehrt, kennt ihn dort niemand mehr. Man liest in alten Büchern nach und sagt dem Mann, er sei offenbar jener Bräutigam, der vor dreihundert Jahren am Tag nach seiner Hochzeit verschwunden sei. Der Mann hört es und zerfällt zu Staub.

Paul Esterhazy hat in seiner Regie darauf verzichtet, den Bass Alexander Kiechle als Bräutigam und den Countertenor Terry Wey als Fremden, beides ausgezeichnete Sänger, auf die Bühne zu bringen. Stattdessen erlebt man die Zwillingsbrüder Jiří und Otto Bubeníček bei langsamen Pantomimen. Sie tragen mit grünen Gehröcken und roten Wämsen sehr schöne Kostüme von Pia Janssen, und sie vervielfältigen sich dank einer äußerst raffinierten Video-Projektion von Friedrich Zorn. Zu sehen sind Tänze mit Phantomen, die das romantische Motiv des Doppelgängers eindrucksvoll visualisieren.

Dazu spielt das Ictus-Ensemble, es singen zwölf Frauen von Cantando Admont zu einer Midi-Uhr, die den Dirigenten ersetzt. Die Musik, neunzig Minuten lang, ist statisch und kontrastarm. Lang arbeitet, wogegen prinzipiell gar nichts zu sagen ist, minimalistisch mit diatonischen Clustern und Skalen, entweder in Moll oder in Dur. Er hat Geschmack in der Materialwahl, guten Sinn für die Abfolge harmonischer Felder und für das Ausleuchten der Klänge. Doch wer erwartet, Lang würde hier mit dem Kontrast von Zeiterfahrungen arbeiten, mit dem Gegensatz einer stehenden oder zirkulierenden Zeit zu einer gerichteten, gezielt ablaufenden Zeit, der sieht sich enttäuscht. Ohne nachvollziehbare Notwendigkeit, Theater werden zu müssen, kreist die Musik sphärisch in sich selbst, ein „Immer wie immer“ ohne Anfang und Ende.

Dazu rieselt auf der Bühne der Schnee, später frisst eine nassnasige Kuh Blumen, Bienen schweben in Zeitlupe durch die Luft. Die Musik, aus Streichern und Bläsern delikat gemischt, esoterisch angereichert durch Triangel, Glocken und gestrichene Becken, klingt wie Arvo Pärt auf Valium oder schaumgebremste Almwiesen-Adagios von Gustav Mahler. Man hätte nach fünfzig Minuten Schluss machen können und sollen.

Nächstes Jahr, sagt Katharina Wagner, wird es wieder ein neues Stück geben, zum 150. Geburtstag von Siegfried Wagner. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel werden es schreiben. An den hundertsten Geburtstag von Wolfgang Wagner wird ein Festakt im Festspielhaus am 24. Juli erinnern. Und Tobias Kratzer inszeniert einen neuen „Tannhäuser“ unter der musikalischen Leitung von Valery Gergiev. Der nächste „Ring“ ist für 2020 geplant. Ansonsten bleibt alles „immer wie immer“.

 

Richard-Wagner-Verband Bamberg - Beers Blog, 26. Juli 2018

Faszinierende Trug- und Vexierbilder

von Monika Beer

Der „Meister“ wäre wahrscheinlich begeistert gewesen, wenn er diese Uraufführung erlebt hätte. Wie bitte? War die letzte Festspiel-Uraufführung nicht vor 136 Jahren? Ja, aber der „Parsifal“ wurde im Festspielhaus aus der Taufe gehoben, und die Oper „der verschwundene hochzeiter“ des österreichischen Komponisten Klaus Lang am Dienstag im ehemaligen Reichshof-Kino, das sich übrigens nicht als Notlösung, sondern als ideal entpuppte. Doch der Reihe nach.

Im letzten Jahr haben die Festspiele als eigenes Rahmenprogramm erstmals die Reihe „Diskurs Bayreuth“ initiiert, mit einem hochkarätig besetzten Symposium und Konzerten in Haus Wahnfried. Heuer lautet das Generalthema „Verbote (in) der Kunst“, das sich unter anderem im Frageverbot in Wagners „Lohengrin“ spiegelt – und im ersten Auftragswerk der Bayreuther Festspiele, das am Tag vor der Festspieleröffnung uraufgeführt wurde.

Die neue Oper im extrem reduzierten und strukturierten Szenarium und Libretto des Komponisten greift den Stoff einer alten österreichischen Sage auf: Ein Bräutigam wird von einem Fremden zu einer Hochzeit eingeladen, soll sich vergnügen, feiern und tanzen – aber nur so lange die Musik spielt. Der Bräutigam hält sich nicht daran. Als er heimkehrt, erfährt er, dass seit seinem Weggang dreihundert Jahre vergangen sind, und zerfällt zu Staub.

Die Produktion ist in mehrfacher Hinsicht ein Coup – und zumindest, was die Besetzung betrifft, kaum zu toppen. Denn Regisseur Paul Esterhazy, der nicht zum ersten Mal eine Oper von Klaus Lang inszeniert, hat sich erstens als Partner den Videokünstler Friedrich Zorn geholt und zweitens den Hochzeiter in eine Doppelfigur umgesetzt, die auf der Bühne von zwei Tänzern dargestellt wird: das tschechische Zwillingspaar Jiri und Otto Bubenicek, das sich dank virtuoser Videotechnik auch vervielfachen kann.

Wenn laut Textbuch „der raum und die zeit sich öffnen“ – Wagnerianer denken natürlich an den Schlüsselsatz „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“ aus dem „Parsifal“ – sieht man ein schon lange leerstehendes Zimmer mit zwei Fenstern, in dem zunächst meditativ Schnee fällt. Der Bassist Alexander Kiechle (Der Hochzeiter) und der Countertenor Terry Wey (Der Fremde) als Gesangssolisten, der subtile Frauenchor sowie das vom Komponisten geleitete Orchester Ictus Ensemble musizieren verteilt im Raum neben den Zuschauern und vom Rang her, so dass sich immer wieder das Gefühl einstellt, vom Klang eingehüllt zu werden.

Klaus Lang geht es in der neuen Oper vor allem um das Hörbarmachen von Zeit und Zeitlichkeit, um die Wahrnehmung unterschiedlicher Klangwelten, die einerseits wirken sollen wie abstrakte Farbflächenmalerei, wobei die Farbe Weiß ein wiederkehrendes Element ist, andererseits wie ein hyperrealistisches Stillleben. Minimalistisch einlullenden Klangflächen und Gesängen stehen seltene Klangexplosionen gegenüber, die wie aus dem Nichts kommen.

Die rätselhafte Märchenhandlung und ihre brillante szenische Umsetzung mit Trug- und Vexierbildern stützt das musikalische Fließen, in dem die Zeit verstreicht, immer wieder angehalten und selten beschleunigt wird. 5373 genau gezählte Sekunden, also gut eine Stunde und vierzig Minuten, dauert die Oper, die in ihrer auch alphabetischen Struktur hörbar ein bisschen an Malen nach Zahlen erinnert. Die Uraufführung an einem heißen und späten Sommerabend tat das Ihrige, dass nicht wenige im Publikum sich wünschten, sie wäre trotz der auch gegebenen musikalischen Faszination nur halb so lang gewesen.

Den internen Vergleich mit der heutigen musikalischen Avantgarde braucht Richard Wagner also nicht zu fürchten. Allerdings hätte er wer weiß was gegeben, um die bühnentechnischen und vor allem filmischen Möglichkeiten zu haben, mit denen die Inszenierung so überzeugend punktet. Dass dafür ein ehemaliges Kino aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wurde, ist also keine Notlösung, sondern eine wunderbare Fügung. Mit Wundern kann’s gerne weitergehen.


Msn News 27.07.2018

The first commissioned work of new music in Bayreuth Festival history and the first world premiere there since 1882: the multimedia fairy tale "der verschwundene hochzeiter" (The Bridegroom Disappeared) by Klaus Lang.

by Rick Fulker

The tale can be read out loud in four minutes. In the version with music, choreography, video production and singing, it takes one hundred minutes. A flurry of gentle, rapid notes envelop listeners seated in an old movie theater as musicians perform to the audience's left and right. A dancer shares the stage space with video projections that seem like holograms. The latter sometimes merge with the corporeal figure and sometimes drift apart or multiply. Two windows at stage rear afford a view of the countryside, which is sometimes stationary, and sometimes whizzing by. Projected images seem to show people looking in on the stage action from behind. Everything is drawn out to a snail's pace. A sense of timelessness ensues, the audience drawn into the hypnotic spell.

People, create something new!
What does that have to do with the Bayreuth Festival? As director Katharina Wagner explained, "We're often accused of always doing the same thing over and over, nothing but Wagner. So we decided to counter that." Her great-grandfather had called for nothing less. "People, create something new!" was Richard Wagner's exhortation to his contemporaries. 136 years have passed since the premiere of his last opera, Parsifal," in 1882. The composer died only months later and had specified that the Festspielhaus he'd personally designed be reserved for performances of his own works. Thus "der verschwundene hochzeiter" (The Bridegroom Disappeared) premiered at the Reichshof, an old silent movie theater in downtown Bayreuth. The first question that comes to mind: was it inspired by Wagner's music? "There are actually two opposing factors," says Paul Esterhazy, director of the production. "A composition by Klaus Lang is everything that Wagner is not. On the other hand, I thought the wonderful story would fit here well because like the Wagner festival, it addresses veritable philosophical issues of space and time."

The mystery of time
The text is based on an old Austrian tale: A wedding guest disobeys a command, dances too long — and after returning to his villages learns that three hundred years have passed. When the truth is revealed, he dissolves into dust. Composer Klaus Lang derived his musical inspiration not from Wagner but more from the first-ever extant opera: "Rappresentatione di Anima, et di Corpo" (Play of Soul and of Body) by the composer Emilio de' Cavalieri from the year 1600. The main figure in it is "Tempo" (Time). Music reminiscent of the Renaissance can be heard in Lang's score along with wide, sweeping waves of sound worked out in elaborate detail and conveyed by acoustic instruments, electronics and two vocal soloists. "Music is always a very clear, constructive art, and since ancient times, composition has always involved numbers and rational processes," explains Lang. "Yet there is hardly an artform that has such a direct and stark emotional effect on people. Many were deeply moved after the performance."

A romantic work? Though one might draw comparisons to the romantic opera "Lohengrin" that opened this year's Bayreuth Festival, Lang's partner Paul Esterhazy describes the new work as anti-Romantic, even anti-Wagnerian. "Romantic means having feelings front and center," says Esterhazy. "Romanticism has to do with the notion that the artist expresses something of his inner state in the form of sound," Lang added. "With me, it's the opposite. I try to construct objects of sound that have a beauty of their own."

The issue of time
The repetitious soundscapes, video motifs and action did grow lengthy and even monotonous at the world premiere that ran for roughly an hour and a half. "But we could imagine going on for five hours," says Esterhazy. Performed without a conductor, the music is precisely coordinated via monitors. Esterhazy's work with the two silent protagonists, twin dancers Jiří and Otto Bubeníček, demonstrated equal precision. The approach is very different to an orthodox composer. "In a wonderful or maybe horrible way, he works with soulless sixteenth notes," says Esterhazy. "But I work with people that I must motivate and cajole. I have to try to get two dancers to punish themselves for 90 minutes by keeping their muscles at a high tension." The music, motion, videos and interior space of that old theater blend so well that Lang and Esterhazy doubt whether the work could later be performed somewhere else after the three scheduled showings in Bayreuth. But perhaps that's the lesson of the "Bridegroom Disappeared." There isn't always a next time or a second chance. You can't turn back the clock.


Deutschlandfunk 25.07.2018

Entschleunigung pur in Bayreuth
Die Uraufführung der Oper "der verschwundene hochzeiter" steht im Zentrum des Festspiel-Rahmenprogramms "Diskurs Bayreuth". Klaus Langs tonale, unablässig flirrende Musik scheint die Zeit aufheben zu wollen. Und um die geht es auch in der alten österreichischen Sage, von der die Geschichte handelt.

von Christoph Schmitz

Es ist eine fast surreale Geschichte, auf der das Libretto beruht, das der österreichische Komponist Klaus Lang, geboren 1971, auch selbst geschrieben hat. Eine alte österreichische Sage erzählt von einem Bräutigam, der einen Fremden zu seiner Hochzeit einlädt. Der Fremde revanchiert sich und lädt den jungen Ehemann zu seiner eigenen Hochzeit ein paar Tage später ein. Der junge Mann kommt dort an, und der Fremde sagt ihm, dass er immer nur so lange tanzen darf, wie die Musik spielt, auf keinen Fall länger. Der junge Mann aber ist vom Fest so begeistert, dass er gegen das Verbot verstößt. Als er in sein Dorf zurückkehrt, erkennt er niemanden mehr wieder und ist für die Dörfler selbst zum Fremden geworden. Er muss feststellen, dass seit seinem Weggang nicht wenige Tage, sondern 300 Jahre vergangen sind – denkt er, und zerfällt zu Staub.

Das Verbot als Motiv in der Kunst
Das Thema Tanz- oder auch Kunst-Verbot erinnert an das Frageverbot in Wagners "Lohengrin" oder an die alttestamentlichen Geschichte von Adam und Eva; diese mythologischen, existentiellen, philosophischen und auch gesellschaftskritischen Schichtungen fächert Langs Oper auf. Klaus Lang hat mit seinem Musiktheater "der verschwundene hochzeiter" ein unablässig fließendes, flimmerndes, flirrendes, sirrendes und zitterndes Klangkontinuum komponiert. Über 90 Minuten hinweg ohne Pause zieht die Musik immer tiefer hinein in ein sich endlos bewegendes Lichtmeer. Diese Musik ist Entschleunigung pur, sie entfaltet einen starken Sog, eine suggestive Kraft. Es scheint, als wolle sie die Zeit aufheben, uns hellwach dem Diktat des getakteten Alltagslebens entziehen und aus der verzweckten Gegenwart befreien. Sehr tonal geprägt, hat sie sich auch gewissermaßen selbst befreit vom avantgardistischen Diktat. Die Musiker vom Ictus Ensemble aus Belgien, spezialisiert auf Neue Musik, und der Chor Cantando Admont aus Österreich spielen und singen das sehr intensiv, energetisch, mit riesigen Bögen, wie auch die beiden Gesangssolisten, der Bass Alexander Kiechle und der Countertenor Terry Wey.

Surreale Bildgeschichte mit genialisch einfachen Mitteln
Regisseur Paul Esterhazy hat einen kargen, fast leeren Wohnraum mit zwei Fenstern auf die Kinobühne im ehemaligen Kino "Reichshof" aus den 1920er-Jahren in der Altstadt Bayreuths gestellt. Als einzige Spielfigur, eine stumme Pantomime, ist der Hochzeiter in Trachtenkleidung zu sehen, dargestellt im Wechsel von den beiden Tänzern Otto und Jiri Bubenicek. In reduzierten und extrem verlangsamten Bewegungen, oder auch wie im Zeitraffer beschleunigt, stellen sie die Titelfigur dar. Der Clou der Inszenierung: Mit der sogenannten Pepper-Ghost-Technik - einer schrägen durchsichtigen Folie am Bühnenrand - werden Videoprojektionen des Hochzeiters auf und neben die reale Figur auf der Bühne übertragen. Der Hochzeiter verdoppelt, vervielfacht sich – eine traumhafte, träumerische, surreale Bildgeschichte entsteht. So sind in dieser Traumzeitgeschichte Musik und Inszenierung genialisch miteinander verwoben. Ein starker Auftakt für die Bayreuther Festspiele.

Mit Auftragskompositionen dieser Art im Rahmen des seit 2017 mit "Diskurs Bayreuth" erweiterten Programms hat man in Bayreuth den Grünen Hügel neu bepflanzt. Frisches Grün sprießt überall. Unter Festspielleiterin Katharina Wagner entwickeln sich die Festspiele weiter.


Allgemeine Zeitung, 27.07.2018

Bayreuther Festspiele: „Lohengrin“ scheitert szenisch und beglückt musikalisch

von Volker Milch

(...) Während die Re-Romantisierung in dieser blauen Mottenkiste kläglich scheitert, gelingt sie auf wirklich wundersame, bezaubernde Weise am Vorabend mit der Uraufführung von Klaus Langs Oper „Der verschwundene Hochzeiter“ im historischen Kinosaal „Reichshof“. Richard Wagners Forderung „Kinder, schafft Neues!“ hatte Urenkelin Katharina beherzigt und einen Kompositionsauftrag vergeben. Das Resultat, das auf einem Märchen basiert, erinnert in seiner silbrigen Raumklanglichkeit manchmal wirklich an „Lohengrin“ und spielt auf der Bühne mit dem erzromantischen Doppelgänger-Motiv: Die Zwillinge Jiri und Otto Bubenicek verdoppeln sich in virtuellen Figuren, die wie Hologramme im Raum schweben. Der Chor Cantando Admont und das Ictus Ensemble tragen zum magischen Erlebnis bei.


OVB online. 25.07.2018

Bayreuther Festspiele

Kein Wiederkäuer
Wahn und Wirklichkeit mit den Zwillingen Jiří Bubeníček und Otto Bubeníček sowie Videos.

von Markus Thiel

Irgendwann gibt der Verstand auf und das Auge sowieso. Ist es der echte Hochzeiter, der da im Schneegestöber wandelt oder im Zimmer sitzt? Ist es sein Video-Ebenbild? Woher kommen überhaupt die anderen identischen Gestalten? Immerhin ein Doppelgänger ist aus Fleisch und Blut, die Darsteller Jiří Bubeníček und Otto Bubeníček sind Zwillinge. Und gespielt wird  dazu, oho, nicht Richard Wagner, sondern Musik, ach was: eine soghafte, magische, aufregend oszillierende, im Doppelsinn unfassbare Klanginstallation von Klaus Lang.

Einen Tag vor dem gestrigen „Lohengrin“-Spektakel (siehe Nachtkritik) starten die Bayreuther Festspiele mit einer Uraufführung. Ganz Vorwitzige rechnen aus, dies sei mutmaßlich die erste seit 1882, seit dem „Parsifal“. Um Raum und Zeit, um deren Wechselwirkung, Dehnung, Raffung und Außerkraftsetzung geht es nicht nur im Weihespiel, sondern auch in „Der verschwundene Hochzeiter“. Klaus Lang, geboren 1971 in Graz, adaptiert dafür eine Sage seiner Heimat. Ein Hochzeiter folgt da einer Gegeneinladung eines anderen frisch Verheirateten. Auf dem Weg dorthin begegnet er allerlei Merkwürdigkeiten, er tanzt (verbotenerweise zu lange), und wenn er zurück im Dorf ist, kennt ihn keiner mehr: 300 Jahre sind vergangen.

Aus dem Stück selbst erschließt sich das nur bruchstückhaft, die Sage wird daher vorab gelesen. Gespielt wird im Reichshof im Bayreuther Zentrum, einem alten Kino. Und spätestens nach dieser Uraufführung ist der Saal zum neuen Kultort der Wagner-Stadt geadelt. Klaus Lang, Regisseur Paul Esterhazy, Video-Künstler Friedrich Zorn, die im Raum verteilten Choristen von Cantando Admont und Musiker des Ictus Ensembles glückt dabei Großartiges. Man muss sich einhören, einfühlen, einsehen in diesen endlos scheinenden Bildklangfluss. Doch irgendwann wird man willig mitgetragen und staunt. Über die Urlaute, das Schimmern und Schillern, die Textbruchstücke, die Tonpartikel, über die feingeistige Strukturarbeit und die große Sinnlichkeit. Besonders aber über die Video-Überblendungen, die Wahn und Wirklichkeit verblüffend bis beunruhigend verschwimmen lassen.

„Der verschwundene Hochzeiter“ ist eine Spur zu lang, was verschmerzbar ist. Vor allem aber ist er ein starkes, wichtiges Zeichen in einem Bayreuth, das die immer gleichen zehn Musikdramen des heiligen Richard wiederkäut. Die Produktion ist der Auftakt zur diesjährigen Reihe „Diskurs Bayreuth“, der, so die gute Idee der Chefin Katharina Wagner, in Symposien und Konzerten Festspielreflexion betreibt. Eine quasi grenzenlose Angelegenheit – passend zum „Lohengrin“ geht es heuer um Frageverbote.


Wiener Zeitung

Aus der Zeit gefallen

von Joachim Lange

Klaus Lang-Uraufführung als Prolog in Bayreuth.

Eine Uraufführung in Bayreuth - das gab es seit "Parsifal" nicht mehr. Zum (maßvollen) Erneuerungsehrgeiz von Katharina Wagner gehört auch, die Aufforderung ihres Ahnen, "Macht Neues!" wörtlich zu nehmen. Leider nicht im Markgräflichen Opernhaus - gegen den notwendigen Probenbetrieb im barocken Baukunstwerk haben die Betreiber ihr Veto eingelegt. Das charmante ehemalige Kino Reichshof in der Mitte der Maximilianstraße tut es auch.

Der Auftrag der Festspiele ging an den Grazer Klaus Lang. Mit seinem Anderthalbstünder "der verschwundene hochzeiter" dockt er weder direkt an Wagner an, noch stellt er sich gegen ihn. Im flirrenden, wabernden und zweimal auch in einem Tutti-Ausbruch eskalierenden Klangteppich scheint gelegentlich ein Hauch von Inspiration aus dem Reich der Klänge zwischen Rheingoldvorspiel und Waldweben eingewebt.

Die fabelhaft von Georges-Elie Octors einstudierten Instrumentalisten des Ictus Ensembles sind effektvoll - unter der Leitung des Komponisten - um die Zuschauer herum verteilt. Faszinierend, wie sich Paul Esterhazy (Regie) und Friedrich Zorn (Video) der geheimnisvollen Geschichte jenes sagenhaften Hochzeiters nähren, der 3 Tage nach seiner Hochzeit verschwindet, erst nach 300 Jahren zurückkehrt und zu Staub zerfällt. Die Ballettlegenden Jiří und Otto Bubeníček und ihre holografischen Doubles steuern eine suggestive Bilderwelt, Bass Alexander Kichle, Counter Terry Wey und der Chor Cantando Admont die Stimmen dieser hochatmosphärischen Reise durch Raum und Zeit bei.


Schwäbisches Tagblatt, 26.07.2018

Ein Bräutigam in Zeit und Raum
Zum Auftakt bietet Bayreuth auch eine Uraufführung: Klaus Langs „Der verschwundene Hochzeiter“.

von Jürgen Kanold

Bayreuth. Eine Oper in Bayreuth, die nur 90 Minuten dauert? Mit einem Countertenor? Nach einer österreichischen Sage aus dem Gölsental? Doch, und es war sogar eine Uraufführung der Festspiele, die erste seit dem „Parsifal“ 1882! Allerdings nicht von Richard Wagner.
Dessen Ururenkelin Katharina Wagner, die aktuelle Festspielchefin, hat aber ganz richtig festgestellt, „dass man sich nicht immer mit sich selber beschäftigen soll“. So gibt es seit 2017 ein Rahmenprogramm „Diskurs Bayreuth“ mit Vorträgen und Konzerten, und jetzt hat sie auch ein Auftragswerk beim österreichischen Komponisten Klaus Lang, einem viel gefragten Avantgardisten, bestellt, das die Siemens-Musikstiftung finanzierte: „Der verschwundene Hochzeiter“.
Das kam am Dienstagabend freilich nicht auf dem Grünen Hügel heraus, der ist gewissermaßen ein Sperrbezirk für Wagner; das Festspielhaus, da sind die Bayreuther Festspiele zum Glück unverwechselbar, bleibt nur seinen Opern gewidmet. Langs Musiktheater hatte im „Reichshof“ seine bejubelte Uraufführung – klingt auch nach Wagner, ist aber ein Kino von 1925 mit Retro-Charme in der Fußgängerzone und passt gut zu einer Oper, in der sich Raum und Zeit auflösen.
In einem Sommer, in dem droben der „Lohengrin“ im Mittelpunkt steht, die romantische Oper über eine märchenhafte Gestalt, die aus dem Nichts auftaucht und über deren Herkunft ein Frageverbot verhängt ist, kann Klaus Langs Hochzeiter gut mithalten: Es ist die Geschichte eines Bräutigams, der von einem Fremden zu dessen Hochzeit eingeladen wird; aber auf seinem Weg durch die Landschaften geht ihm die Zeit verloren. Und weil er, am vermeintlichen Ziel, länger tanzt als erlaubt, sind bei seiner Rückkehr gleich mal 300 Jahre vergangen.

Ohne Dirigent
Paul Esterhazy und dem Videokünstler Friedrich Zorn gelingt mit den Zwillingen Jiri und Otto Bubenicek (einst Ballettsolisten bei John Neumeier) auf der Bühne ein atemraubend trickreiches Spiel mit den Realitäten. Und die Musik versetzt den Zuschauer in eine Art Trance. Das Ictus Ensemble mit Streichern, Bläsern und Perkussion sowie der Chor Cantando Admont und die Solisten Alexander Kiechle und Terry Wey sitzen und stehen um das Publikum herum und bauen – ohne Dirigenten – einen Klangkosmos auf: aus der Stille heraus oft lange, ziehende, meditative Töne schichtend. Wagners „unendliche Melodie“ fällt einem dabei ein. Nur dass es bei Klaus Lang ein ganz inneres, tatsächlich naturhaft verästeltes Klangbild ist. 


Main-Spitze, 27.07.2018

Bayreuther Festspiele: „Lohengrin“ scheitert szenisch und beglückt musikalisch

von Volker Milch

(...) Während die Re-Romantisierung in dieser blauen Mottenkiste kläglich scheitert, gelingt sie auf wirklich wundersame, bezaubernde Weise am Vorabend mit der Uraufführung von Klaus Langs Oper „Der verschwundene Hochzeiter“ im historischen Kinosaal „Reichshof“. Richard Wagners Forderung „Kinder, schafft Neues!“ hatte Urenkelin Katharina beherzigt und einen Kompositionsauftrag vergeben. Das Resultat, das auf einem Märchen basiert, erinnert in seiner silbrigen Raumklanglichkeit manchmal wirklich an „Lohengrin“ und spielt auf der Bühne mit dem erzromantischen Doppelgänger-Motiv: Die Zwillinge Jiri und Otto Bubenicek verdoppeln sich in virtuellen Figuren, die wie Hologramme im Raum schweben. Der Chor Cantando Admont und das Ictus Ensemble tragen zum magischen Erlebnis bei.


Die Welt – Brugs Klassiker (Blog)

von Manuel Brug

Weiter geht auch die dramaturgische Seitenlinie „Diskurs Bayreuth“. Zum letztjährigen Thema „Wagner und der Nationalsozialismus“ sind die Referate in Buchform erschienen, dieses Jahr hat die Kuratorin Marie Luise Maintz unter dem Motto „Verbote (in) der Kunst zu Vorträgen und Konzerten geladen. Feridun Zaimoglu eröffnet, nächstes Jahr will er hier ein Stück über Siegfried Wagner uraufführen. Diese Jahr aber gab bei den Bayreuther Festspielen bereits die erste Musiktheater-Novität seit dem „Parsifal“ 1882: „der verschwundene hochzeiter“ von Klaus Lang in einer technisch tricky Regie von Paul Esterhazy. Das aus 90 Minuten gefühlten Gamelanglocken-Liegeobertönen sich fügende Stück wurde atmosphäresatt im ehemaligen Stummfilmkino Reichshof gegeben. Dirigentenlos spielte das im Raum verteilte Ictus Ensemble, darunter mischten sich wortlos die Stimmen des Cantando Admont. Unsichtbar sangen Alexander Kiechle und Terry Wey den Hochzeiter und den Fremden, welcher ersteren 300 Jahre lang als Seelenbefreier entführt, bis dieser in eine fremde Welt zurückkehrt und zu Staub zerfällt. Mit ihren eigenen Hologrammen spielten die Tanzzwillinge Jiri und Otto Bubenicek in alpenländischer Tracht traumwandlerisch präzise im zeitlupenhaften Immersions-Quartett. Das hätte ruhig ein wenig kürzer sein können, hatte aber meditative Magie.

Neue Presse, Hannover, 26.07.2018

Neue Töne am Grünen Hügel

von Henning Queren

Es geht auch ohne Richard Wagner: In der Reihe „Diskurs Bayreuth“ lassen die Festspiele auch andere Töne zu. Besonders gelungen: „Der verschwundene Hochzeiter“.

Immer nur Wagner ist auch langweilig. Also muss man etwas Neues machen. „Diskurs Bayreuth“ heißt die ambitionierte Reihe, die im offiziellen Programm der Bayreuther Festspiele läuft, und Opernuraufführungen von einer Qualität bringt, die vom ästhetischen Erlebnis her so manches in den Schatten stellen, was im Festspielhaus über die Bühne geht.
Das kleine Opernwunder heißt „Der verschwundene Hochzeiter“ vom Österreicher Klaus Lang. Da in und um das Festspielhaus satzungsgemäß nur Wagner gespielt werden darf, weichen die Festspiele hier auf die Kulturbühne „Reichshof“ – ein ehemaliges Kino – aus, das für so etwas optimale Bedingungen bietet.
Die erste Oper von Richard Wagner hieß „Die Hochzeit“ – insofern vielleicht eine bescheidene Referenz. Die Story basiert auf einem Volksmärchen: Ein Hochzeiter wird von einem Fremden eingeladen zu dessen Hochzeit und wird mehrfach vom Fremden ermahnt, nicht länger zu tanzen, als die Musik spielt – was er natürlich nicht macht. Der Hochzeiter kommt wieder nach Hause, niemand erkennt ihn, mittlerweile sind 300 Jahre vergangen, und er zerfällt zu Staub.
Die eineinhalbstündige Tonspur ist von bemerkenswerter Qualität, hypnotisch, harmonisch, hochdifferenziert, oft an der Grenze der Hörbarkeit – und wunderschön, in der Art Ligeti gemildert durch Debussy. Die Inszenierung war entsprechend und mit Staraufgebot – Hochzeiter und Fremder waren die beiden Neumeier-Tänzer, die Zwillinge Jiri und Otto Bubenicek, gesungen wurde aus dem Off – unter anderem von Countertenor Terry Wey (Kunstfestspiele Herrenhausen).
Und auf der Bühne (Regie: Paul Esterhazy) wurden die Zwillinge per Video und Holgramm verdoppelt. Da braucht man dann schon irre Körperbeherrschung, wenn man seinem eigenen Avatar am Tisch gegenüber sitzt – auf einem nur projizierten Stuhl. Gegenwärtiger kann Musiktheater in Bayreuth nicht erleben.


Neue Osnabrücker Zeitung, 25.07.2018

"Der verschwundene Hochzeiter"
Bayreuther Festspiele wagen nach 136 Jahren eine Uraufführung

von Dietgard Oberst

Die perfekte Illusion: "Der verschwundene Hochzeiter" beeindruckt mit der Technik des Varieté-Theaters.

Die Bayreuther Festspiele gehen mit der Zeit und erweitern sich. Deshalb beginnen das Wagner-Festival in diesem Jahr einen Abend vor der „Lohengrin“-Premiere mit einer Uraufführung.

So, die Bayreuther Festspiele haben es geschafft, wieder einmal ein nagelneues Werk auf die Bühne zu bringen, 136 Jahre nach der Uraufführung des „Parsifal“. Setzen die Festspiele damit um, was Festivalgründer Richard mit dem Satz, „Kinder macht Neues“ seiner Nachwelt mit auf den Weg gegeben hat? Nun, „Der verschwundene Hochzeiter“ ist sicher ein Stoff, der es an rätselhafter, um nicht zu sagen: verwirrender Mystik mit den Werken Wagners aufnimmt. Komponist Klaus Lang setzt diese Geschichte in transzendierende Klangflächen, die beherzte Schnitte gut vertragen könnten — wer will, kann da ebenfalls Parallelen zu den ausladenden Gesamtkunstwerken des Bayreuther Meisters erkennen. Und schließlich spielen ein Verbot und klaffende Löcher im Raum-Zeit-Gefüge eine entscheidende Rolle, wie in „Lohengrin“ und „Parsifal“. Weiterlesen: Der aktuelle Bayreuther "Parsifal"

Neues Format: "Diskurs Bayreuth"
Tatsächlich ist die Oper Teil des im letzten Jahr auf den Weg gebrachten Formats „Diskurs Bayreuth“, ein Rahmenprogramm, um das Phänomen Richard Wagner wissenschaftlich und kulturhistorisch neu zu ergründen. „Verbote (in) der Kunst“ steht diesmal als Titel über der Veranstaltungsreihe, und die Oper von Klaus Lang ist sicher ein markanter Beitrag. Gut, ins Festspielhaus hat es die neue Oper nicht geschafft; tatsächlich ist das Stück für die kleine Bühne konzipiert. Deshalb findet es im ehemaligen Kino Reichshof in der Bayreuther Fußgängerzone seinen passenden Ort (nachdem das frisch renovierte Markgräfliche Opernhaus sich als ungeeignet herausgestellt hatte, weil man Angst hatte, durch Langs Musik könnte der frische Putz von den Wänden fallen). Die Bayreuther Festspiele liegen damit im kulturpolitischen Trend, demzufolge die Institutionen ihre angestammten Tempel verlassen und dorthin gehen, wo sie neues Publikum vermuten. Eine Kleinkunstbühne könnte da genau der rechte Ort sein. Tatsächlich arbeitet Regisseur Paul Esterhazy ausführlich mit den Mitteln der Kleinkunst, genauer: des Varietés. „Pepper’s Ghost“ heißt die Illusionstechnik, mithilfe derer Esterhazy die beiden Protagonisten auf der Bühne vervielfältigt — eine Technik aus der Zeit Richard Wagners, die auch im digitalen Zeitalter noch verblüfft. Pepper’s Ghost projiziert Figuren auf die Bühne, die wieTraumwesen bar jeder Stofflichkeit die beiden Hauptdarsteller umgeben. Bezaubernd ist das, wenn sich die Tänzerzwillinge Jirí und Otto Bubeníček, die realen Figuren mithin, vervielfachen, wenn einem Schlafenden eine Traumfigur entsteigt und ihr Eigenleben führt, bis Traum und Bühnenrealität wieder miteinander verschmelzen.

Ins Zeitloch gefallen
Eine kleines, kahles Zimmer mit zwei Fenstern hat Esterhazy auf die Bühne gebaut: Spielfläche für die beiden Tänzer und ihre illusionierten Doubles, sowie Projektionsfläche für die Videos von Friedrich Zorn. Erzählt wird eine österreichische Sage: Ein junger Mann, frisch verheiratet, wird von einem eigenartigen Menschen zu einer noch eigenartigeren Hochzeitsfeier eingeladen, wo im ausdrücklich verboten ist, länger zu tanzen, als die Musik spielt. Weil er dieses Verbot bricht, fällt er in ein Zeitloch und kommt 300 Jahre später zurück in sein Heimatdorf, erkennt das und zerfällt zu Staub. Diese Geschichte lässt Esterhazy fein in Niederösterreich; deshalb steckt Kostümbildnerin Pia Janssen den einen der beiden Tänzer in farbenprächtige Tracht und den anderen zum schwarzweißen Gegenentwurf gemacht. So führt der Weg zu Wagner diesmal über die niederösterreichische Landschaft, aber es beschleicht einen sehr schnell das Gefühl, der Weg ende irgendwo im Wald. Das größte Problem aber sind die Klangflächen Klaus Langs, die weniger an die sanften Hügel Niederösterreichs denken lassen, als mehr an die flirrende Eintönigkeit unendlicher Karglandschaften. Dabei erzeugt Lang eine gedrückte Atmosphäre, arbeiten das Ictus Ensemble und der Chor Cantando Admont klangliche Raffinessen durchaus heraus. Und die Solisten Alexander Kiechle (Bass) und Countertenor Terry Wey singen die Solopassagen mit feinen Stimmen, auch wenn sie klingen, als hätte Lang sie im Deklamationsschretter zerhäckselt. Vor allem aber tragen die Klangflächen nicht über anderthalb Stunden, und den allzu locker durchhängenden Handlungsfaden können nicht einmal die bezauberndsten Illusionen mit Spannung aufladen. Aber das Premierenpublikum feiert die Produktion trotzdem, und als Anfang für das Bayreuth der Zukunft mag dieser „Hochzeiter“ ja taugen. Richard Wagner hat ja auch gebraucht, um Festspiel-Niveau zu erreichen.

 

Online Musik Magazin, 25.07.2018 
Traumes Bruder

von Roberto Becker

Der traditionelle Eröffnungstermin auf dem Grünen Hügel ist der 25. Juli. Doch diesmal gab es einen Vorabend. Was bei der Wetterlage den Vorzug hatte, dass die Zuschauer, die auch die Eröffnungspremiere gebucht hatten, nicht den Anreise-Stress bei hochsommerlicher Hitze auf sich nehmen mussten. Am 24. gab es neben der Pressekonferenz am Festspielhaus am Abend die erste Uraufführung unter der Ägide der Festspiele in ihrer Reihe "Diskurs Bayreuth" seit unerdenklich lange zurückliegenden Parsifal-Zeiten, also seit 1882! Als Teil dieses Rahmenprogramms wird sich ein Symposium in diesem Jahr mit Verboten (in) der Kunst - und der Uraufführung beschäftigen.

Ideal wäre es gewesen, wenn es gelungen wäre, das gerade wiedereröffnete Markgräfliche Opernhaus als glanzvolle Spielstätte für Uraufführungen oder auch schon mal gezeigte Novitäten, die in einem mehr oder weniger engen Kontakt zu Wagners Musik stehen, zu nutzen. Aber da waren die im letzten Jahr verkündeten Wünsche wohl doch zu hochfliegend. Und die Rechnung ohne die Bayerische Schlösserverwaltung gemacht, die wohl etwas übergenau darauf achtet, dass das barocke Raumkunstwerk der Markgräfin Wilhelmine nicht allzu sehr von den Anforderungen eines Proben- und Theaterbetriebes strapaziert wird. Fürs nächste Jahr schreiben übrigens Feridun Zaimoglu und Günter Senkel ein Stück über Siegfried Wagner zu dessen 150. Geburtstag. Für den Wagner-Sprössling wird es auch einen Festakt am Vorabend geben - das neue Stück wird dann während der Festspiele uraufgeführt.

Das ehemalige, 1926 erbaute Kino Reichshof in der Maximilianstraße erwies sich allerdings mit seinem Charme unterm Tonnengewölbe für die beim 1971 geborenen Österreicher Klaus Lang in Auftrag gegeben Oper der verschwundene hochzeiter als passender Rahmen. Die bewusste Kleinschreibung soll wohl auf die minimalistische Musik verweisen. Auf der Pressekonferenz hatte der Komponist gesagt, dass er sich weder in einem Pro noch in einem Contra direkt auf Wagner beziehen, sondern einfach eine gegenwärtige Position zeigen wolle. Es mag an der Stadt der Uraufführung gelegen haben, dass sich das Flirren der Klänge, mit dem er die Zuschauer überzog, manchmal doch auf Wagner beziehen ließ. Klang da nicht das Rheingold-Vorspiel durch? Oder die Naturidylle aus dem Siegfried? Aber das mögen Assoziationen im Ohr des Betrachters sein, die dem Ort geschuldet sind.

Einen fernen Bezug zum Lohengrin, der tagsdrauf in der Pappmaschee-Bebilderung von Neo Rauch oben auf dem Hügel auf den Programm stand, gab es aber doch. Dort wie hier ging es nämlich um ein Verbot, das ein Protagonist missachtet, um dann erhebliche Konsequenzen zu spüren. Bei Elsa und Lohengrin ist es ein Identitätsproblem; beim Bräutigam, den Klaus Lang in seinem selbstverfertigten Libretto aus der österreichischen Sagenwelt zu Tage gefördert hat, ist es das Verbot, länger auf eine Hochzeit zu tanzen, als die Musik spielt.

Aber die Geschichte ist noch rätselhafter, als ihr Kern klingt. Sie wird dem geneigten Publikum auch nicht via Übertitel nahegebracht. Vor dem Einsetzen der Musik ertönt die Stimme des Komponisten und erzählt in ruhig fließendem Ton von jenen Begebenheiten, die er dann zu einem Klangteppich verwebt. Es geht um eine Dorfhochzeit - irgendwann im niederösterreichischen Gölsental -, zu der auch ein Fremder eingeladen wird, der tatsächlich kommt, sich vergnügt und sich mit einer Gegeneinladung zu seiner eigenen, drei Tage später geplanten Hochzeit revanchiert. So weit, so gut. Doch auf dem Weg dorthin, den der Bräutigam (unhinterfragt) alleine antritt, begegnen ihm einige Merkwürdigkeiten: Zunächst trifft er auf einer fetten Wiese lauter mageres Vieh. Danach auf einer kargen Heide fettes Vieh. Aus einem Häuschen, in dem es gewaltig brummt, lässt er - einem Impuls folgend - unzählige Bienen frei, verschließt es aber wieder, als es ihm unheimlich wird. Schließlich kommt er bei der Hochzeit des rätselhaften Fremden an, wird freundlich empfangen und aufgefordert, kräftig mitzufeiern. Beim Tanzen allerdings solle er darauf achten, nie länger zu tanzen, als die Musik spielt. Zweimal missachtet er das Verbot - bei dritten Mal hält er sich daran. Bevor er den Heimweg antritt, wird ihm noch erklärt, was es mit seinen sonderbaren Begegnungen auf sich hat: Die Bienen, die er freigelassen habe, seinen arme Seelen gewesen, die froh darüber waren, befreit worden zu sein. Das fette Vieh werde er nicht mehr antreffen, denn das waren Seelen, die der Erlösung schon recht nahe waren. Das dürre Vieh hingegen werde er noch antreffen, denn das seien arme Seelen, die noch lange zu leiden hätten. Auf dem Rückweg dann findet er das Bienenhäuschen, aber keine Öffnung mehr, um weitere Bienen freizulassen. Das fette Vieh auf der Heide ist - wie vorhergesagt - ebenso nicht mehr da, wie er das magere Vieh noch vorfindet. Doch dann passiert es: als er zu Hause ankommt, ist ihm alles fremd und man kennt ihn nicht. Als er seine Geschichte erzählt, holt man ein Buch hervor, in dem von einem Bräutigam die Rede ist, der vor dreihundert Jahren, drei Tage nach seiner Hochzeit, verschwunden war. Alle staunen, und er zerfällt in Staub und Asche.

Gelöst hat auch Regisseur Paul Esterhazy dieses Rätsel nicht. Aber eine Bilder- und Traumwelt dazu erfunden, die ebenso hineinzieht wie die minimalistische Musik von Klaus Lang, die zunehmend eine suggestive Wirkung entfaltet. Zu dieser Wirkung trägt die Anordnung der Musiker des Ictus Ensemble und der zwölf Choristen um die Zuschauer herum einen guten Teil bei. Die beiden Sänger, der Bass Alexander Kiechle als Hochzeiter und der Countertenor Terry Wey als der Fremde, steuern ihren nicht allzu ausufernden vokalen Part wie aus dem Off von der Galerie gegenüber der Bühne bei.

Dort blicken wir auf eine Bauernstube mit zwei Fenstern. Es ist ein Blick in die Landschaft, also die Welt in schnell wechselnden Zuständen. Immerhin taucht der in aller bäuerlichen Festtagspracht herausgeputzte Hochzeiter in ein metaphorisches Zwischenreich ab, das sich in einer anderen Dimension der Zeit befindet. Da die Geschichte vorgetragen wurde, können sich Musik und die dazu kongenial assoziierenden Bilder voll ins assoziative Spiel mit Identitäten und Zeiten fallen lassen. Oder erheben. Oder dorthin entführen.

Dem musikalischen Sog entspricht der, den die beiden Tänzerlegenden, die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček , auf der Bühne imaginieren. Wobei eine raffinierte Projektionstechnik und Friedrich Zorns Videos die Grenzen zwischen realer und Geisterwelt immer wieder aufhebt - und man oft nicht genau weiß, mit wem, oder genauer womit man auf der Bühne gerade beim Schreiten, Setzen, Schauen zu tun hat. Einem "echten" Menschen aus Fleisch und Blut. Oder einer Projektion, die ihm täuschend echt begegnet oder sich wie eine Seele von seinem Körper löst.

FAZIT
Klaus Lang und Paul Esterhazy ist ein irritierendes und faszinierendes Gesamtkunstwerk. (Und damit doch eine Referenz an Richard Wagner.)

Neue Musikzeitung, 25.07.2018
Klaus Langs „Der verschwundene Hochzeiter“ als Uraufführung in Bayreuth

Bereits einen Tag vor der ersten Premiere im Festspielhaus eröffneten die Bayreuther Festspiele mit einer Uraufführung: Klaus Langs eigenwilliges Bühnenwerk erwies sich dabei als eine Art von neuem Gesamtkunstwerk.

von Peter P. Pachl

Die Fragestellung, ob im Bayreuther Festspielhaus auch andere Opern als die Richard Wagners zur Aufführung kommen sollen, ist lange ausdiskutiert und durch Stiftungsbeschluss negativ beschieden. Gleichwohl weitete Festspielleiterin Katharina Wagner das Programm aus, bereicherte es – in Kooperation mit der Oper Leipzig – um die im Aufführungskanon des Festspielhauses ausgeschlossenen drei Wagnerschen Jugendopern in einer Sporthalle und um die Produktionsreihe „Wagner für Kinder“ auf einer Probebühne des Festspielhauses. Im Rahmen der im Vorjahr hinzugekommenen Reihe „Diskurs Bayreuth“, mit Konzerten und Symposien, erfolgte nun eine erste Uraufführung.

Beim Auftragswerk der Bayreuther Festspiele an den 1971 in Graz geborenen Komponisten Klaus Lang scheint die inhaltliche Verbindung zu Richard Wagners „Lohengrin“ mehr äußerlicher Natur zu sein: dem Frageverbot wird in der Opernneuschöpfung das Tanzverbot gegenübergestellt. Doch geht es in der in der alten österreichischen Sage vom „Verschwundenen Hochzeiter“ um einen Mann, der sich an die vorgegebene zeitliche Dauer der Gesellschaftstänze nicht hält. Als er schließlich heimkehrt, sind 300 Jahre verstrichen. Mehr als zu „Lohengrin“ scheint der balladeske Ansatz den Bogen zu Wagners „Der fliegende Holländer“ zu spannen, insbesondere in der Konzeption des Regisseurs Paul Esterhazy. Denn die Braut jenes Bräutigams, der nach drei Tagen Ehe der Einladung des mysteriösen Fremden zum Fest in dessen Haus folgt, wird weder thematisiert noch taucht sie im Spiel auf. Die Handlung beschränkt sich vielmehr auf den Hochzeiter selbst und auf einen Doppelgänger als dessen Alter Ego.

Eine durchaus faszinierende Dimension erhält die Geschichte durch die ungewöhnliche szenische Umsetzung im „Reichshof“, einem seit einigen Dezennien leer stehenden Kino in der Bayreuther Altstadt. Die Orchestermitglieder des Brüsseler Ictus-Ensembles – solistisches Holz und Blech inklusive Saxophon, Streicher, Akkordeon, Klavier und Harmonium – sind an beiden Längsseiten des Saales positioniert, die Sänger_innen wechseln ihre Einsatzpositionen zwischen dem Rang des Kinosaales und den Saalseiten, neben dem Orchester. Die Bühne ist in einem Kino naturgemäß ein sehr kleiner Raum. Ein Carre mit einem Heizkörper und zwei Fenstern nach draußen ist die einzige Spielfläche der Handlung. Darauf bewegt sich ausschließlich der Protagonist, in steirischer Tracht mit Lederhose und geschmücktem Hut. Zum Zuschauer hin ist die Bühne durch einen Gazeschleier abgeschlossen, was an den Einsatz eines derartigen Mediums als ästhetische Entrückung bei Wieland Wagner erinnert. Hier aber dient der Gazevorhang in raffinierter Weise als Projektionsfläche, auf welcher der Videokünstler Friedrich Zorn immer wieder Überlagerungen der Dramatis persona mit sich selbst schafft. Ebenfalls per Projektion fällt Schnee. Die Inszenierung integriert den Blick des Auditoriums durch die Fenster der Kinobühne in die Dämmerung und in die einbrechende Nacht. Dann werden auch die Fensteröffnungen zu Projektionsebenen, wobei Zorn mit dem Wechsel von farbigen und schwarz-weißen Filmsequenzen arbeitet. Er illustriert den Weg des Hochzeiters – der Sage gemäß über eine satte Wiese und eine dürre Halde, vorbei an einem Bienenhaus zum Haus des Fremden, der ihn eingeladen hatte. Dabei begegnet der Hochzeiter stets nur Projektionen seiner selbst. In den Schwarzweiß-Sequenzen wird er ersetzt durch ein in Grautönen gewandetes Double (Kostüme: Pia Janssen).

Dabei stellt das Auge des Betrachters seine Realität immer wieder neu ein, richtet den Fokus mal auf die projizierte Figur, mal auf den realen Darsteller. Verstärkt wird dieser Effekt durch die spezifische Besetzung, denn die abwechselnd agierenden Darsteller sind Brüder: Jiri und Otto Bubenicek interagieren exakt mit den vorproduzierten Projektionen ihrer selbst. Überaus faszinierend ist das Zusammenspiel von Aktion und Musik als Einheit, so dass hier tatsächlich von einem neuen „Gesamtkunstwerk“ gesprochen werden kann – obgleich die Komposition de facto nur „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ ist, wenn auch aufwändiger als Arnold Schönbergs op. 34.

Klaus Langs Musik, die den Zuschauer U-förmig umringt, ist obendrein eine ganz neue Art von Mischklang, in welchem die einzelnen Instrumente kaum auszumachen sind. Auch die Stimmen des 12-köpfigen Frauenchors Cantando Admont (einstudiert von Georges Elie Octors) und die der Solisten mischen sich zu einer tonal flirrenden Einheit, in der nur zeitweise eine Ortung möglich ist. Das Libretto ist die – kurz vor dem ersten Musikeinsatz einmal bereits komplett über Band erzählte – alte österreichische Sage, mit direkten Reden vom Hochzeiter und dem Fremden, interpretiert vom Bassisten Alexander Kiechle und dem Counter Terry Wey. Langs Komposition arbeitet merklich mit Entschleunigung, um den Rezipienten in eine Art von Trance zu versetzen. Dies gelingt ihm, vom „weißem Rauschen“ bis hin zu zwei eruptiven Momenten einer klanglich nachempfundenen Ballung von Raum und Zeit.

Im Zusammenspiel mit Paul Esterhazys Szene gemahnen die redundanten Szenenabläufe an die frühen Arbeiten von Bob Wilson mit ihrer penetranten Wiederkehr immer gleicher Bewegungsabläufe – allerdings unter Verwendung einer anderen Art von Minimal Music. Klaus Langs deutlich strukturierter Klangteppich, mit dem Zitat einer Sarabande aus dem späten 17. Jahrhundert als Tanz, evoziert durch das kompositorische Copy and Paste-Verfahren für handlungsgemäß identische Blöcke auch Momente von Langeweile. Bei denen konnte man in Bob Wilsons Inszenierungen an der legendären Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin als Besucher die Pausen individuell frei wählen, den Zuschauerraum verlassen und wieder betreten. Dies ist dem Publikum im dunklen Kinosaal in Bayreuth allerdings nicht möglich und wohl auch nicht erwünscht. Das Premierenpublikum harrte bei der um 21 Uhr beginnenden, pausenlos knapp zweistündigen Aufführung geduldig aus und feierte Klaus Lang in Personalunion von Dirigent und Komponist, das Regieteam und die Interpreten mit einhelligem Zuspruch.


Deutsche Welle, 27.07.2018

Eine neue Oper verblüfft die Zuschauer in Bayreuth
Sie ist das erste Auftragswerk in der Geschichte der Bayreuther Festspiele: Die Oper "Der verschwundene Hochzeiter" von Klaus Lang - ein überraschendes Multimedia-Märchen über das Rätsel der Zeit.

von Rick Fuller

Flirrende, zarte Klänge entlocken die Musiker ihren Instrumenten. Sie sitzen rechts und links von den Zuschauern in einem alten Kino. Auf der Bühne: ein Tänzer neben Videoprojektionen, die wie Hologramme wirken und mal mit der Figur des Tänzers verschmelzen, sich dann wieder von ihm lösen oder sich vervielfachen. Hinten im Bühnenraum geben zwei Fenster den Blick auf Landschaften frei. Zwischendurch blicken Videoprojektionen von Menschen durch die Fenster auf das Bühnengeschehen. Alles läuft wie in Zeitlupe ab, vielmehr: Die Zeit wird aufgehoben, und der Zuschauer wird in den quasi hypnotischen Sog des Spiels aufgenommen.

In Worten ist die Geschichte des verschwundenen Hochzeiters in wenigen Minuten erzählt. In der Version mit Musik, Tanz, Videoproduktion und Gesang benötigt sie einhundert Minuten. Bei einer Hochzeit missachtet ein Besucher einen Verbot. Er tanzt zu lang. Nach der Rückkehr in sein Dorf muss er feststellen, dass dreihundert Jahre vergangen sind. Als ihm das bewusst wird, zerfällt er zu Staub. Die Geschichte der Oper basiert auf einer alten österreichischen Sage.
Kinder, macht Neues! Was hat das mit den Bayreuther Festspielen zu tun? Festspielleiterin Katharina Wagner erklärte: "Oft wird geklagt, wir würden mit Richard Wagner immer nur dasselbe machen. Hiermit begegnen wir diesem Vorwurf." Schließlich habe ihr Urgroßvater nichts weniger verlangt. "Kinder, macht Neues!", hatte Wagner seinen Zeitgenossen zugerufen. Allerdings mussten 136 Jahre nach der letzten Uraufführung, nämlich der von Richard Wagners "Parsifal" im Jahr 1882, vergehen, bis es soweit war. Der Komponist verstarb nur wenige Monate später. Das von ihm erdachte Festspielhaus war den Aufführungen seiner eigenen Werke vorbehalten. Deshalb wurde "Der verschwundene Hochzeiter" an der Kulturbühne Reichshof präsentiert, einem alten Kino in der Bayreuther Innenstadt. Naheliegend wäre der Gedanke, dass das übergroße Vorbild Richard Wagner das neue Werk überschattet. "Eher waren es gegensätzliche Überlegungen", sagt Paul Esterhazy, Regisseur der Produktion. "Eine Komposition von Klaus Lang stellt alles dar, was Wagner nicht ist. Andererseits habe ich mir gedacht, dass dieser wunderbare 'Hochzeiter'-Text etwas ist, was gut hierher passt, weil es sich um ein fast philosophisches Nachdenken um Raum und Zeit handelt."

Das Rätsel der Zeit
Musikalisch bezog der Komponist Klaus Lang seine Inspiration nicht von Wagner sondern eher von der allerersten erhaltenen Oper: "Rappresentatione di Anima, et di Corpo" ("Das Spiel von Seele und Körper") des Komponisten Emilio de' Cavalieri aus dem Jahr 1600. Darin heißt der Hauptdarsteller "Tempo" ("Die Zeit").

Klangflächen und detailverliebte Kleinarbeit
Klänge der Renaissance sind entfernt vernehmbar in Langs Partitur, aber auch breite Klangflächen, die in detailverliebter Kleinarbeit ausarbeitet sind und durch akustische und elektronische Klänge und durch zwei Gesangssolisten realisiert werden. "Musik ist immer eine ganz klare, konstruktive Kunst, und seit der Antike hat das Komponieren immer mit Zahlen zu tun gehabt, mit einem rationalen Vorgang", sagt Lang. "Auf der anderen Seite gibt es kaum eine Kunstform, die direkt eine so starke emotionale Wirkung auf Menschen erzielt. Nach der Vorstellungen waren viele tief ergriffen." Ein romantisches Werk also? Regisseur Esterhazy zieht einen Vergleich zur romantischen Oper "Lohengrin", mit der die Festspiele oben am Grünen Hügel, im Festspielhaus, eröffnet wurden und beschreibt das neue Werk als unromantisch - sogar unwagnerianisch: "Romantisch ist, wenn das Gefühlige im Vordergrund steht", sagt Paul Esterhazy. Lang fügt hinzu: "Romantisch hat immer etwas mit dem Ausdruck zu tun, der Vorstellung, dass der Künstler versucht sich über seine Gefühle, über sein Inneres in Form von Klang auszudrücken. Bei mir ist genau das Gegenteil das Ziel. Ich versuche, klangliche Objekte herzustellen, die ihre eigene Schönheit besitzen."

Vielleicht nie außerhalb von Bayreuth aufführbar
Die wiederholten Klangflächen, Videomotive und Bewegungen hatten bei der Bayreuther Uraufführung durchaus ihre Längen. Die Dauer von etwa anderthalb Stunden war vom Auftraggeber vorgegeben, "dennoch hätten wir uns fünf Stunden zugetraut," sagte Esterházy.

Video-Projektionen und zwei Gesangssolisten
Die Musik wird ohne Dirigenten mithilfe von Monitoren sekundengenau koordiniert. Dazu passt die Präzisionsarbeit des Regisseurs mit den beiden Darstellern, den Zwillingen Jiří und Otto Bubeníček. Das, so Esterhazy, bedeutet einen wesentlichen Unterschied im schöpferischen Prozess zwischen Komponist und Regisseur: "Er hat es wunderbarerweise oder schrecklicher Weise mit seelenlosen Sechzehnteln und mit unbarmherzigen Sekunden zu tun. Aber ich habe es mit Menschen zu tun, die ich motivieren, verführen muss, denen ich versuchen muss, etwas abzuringen: Zwei Tänzer dazu zu bringen, sich 90 Minuten zu kasteien indem sie ihre Muskeln auf Höchstspannung halten. Durch ihre Bewegungen versuchen sie, eine solche Ruhe zu generieren, wie es für den Menschen ungewöhnlich ist." Musik, Bewegung, Video und Raum verschmelzen miteinander - so sehr, dass Lang und Esterhazy daran zweifeln, ob das Werk später einmal, über die drei geplanten Aufführungen im Bayreuther Kino hinaus, an einem anderen Ort realisierbar ist. Vielleicht ist das aber gerade die Lektion des verschwundenen Hochzeiters. Es gibt nicht immer ein nächstes Mal oder eine zweite Chance. Vergangenes lässt sich nicht mehr zurückholen.


WDR 3, 25.07.2018

Klaus Lang, „der verschwundene hochzeiter“ bei den Bayreuther Festspielen

von Jörg Lengersdorf

1882 gab es mit „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen die letzte Uraufführung. Nun präsentierte das altehrwürdige und, was die Repertoireauswahl betrifft, konservativste Festival der Welt eine neue Oper: „der verschwundene hochzeiter“ von Klaus Lang, aber nicht im Festspielhaus, sondern in einem Kinosaal in der historischen Stadtmitte. Anderes als die Werke von Wagner könne man auf dem Grünen Hügel aus Satzungsgründen nicht spielen, sagte Festspielleiterin Katharina Wagner lakonisch bei der Pressekonferenz. In diesem „Reichshof“ genannten Saal wurden rund um die Zuschauer zwei kleine Ensembles, eines vokal, eines instrumental, postiert. Dazu kommen noch ein Bass und ein Countertenor aus dem Off. Alle musizieren hoch konzentriert ohne Dirigent. Vorne auf der Bühne agieren zwei Tänzer, die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček, ehemalige Mitglieder der John-Neumeier-Kompanie. Gezeigt wird die akustisch-visuelle Umsetzung eines in Niederösterreich überlieferten Märchens. Ein Fremder wird zur Hochzeit eingeladen, der sich mit einer Gegeneinladung revanchiert, zu der der Hochzeiter tatsächlich aufbricht und bei seiner Wanderung förmlich aus der Zeit fällt. Er begegnet in Kühe und Bienen verwandelte Seelen, die der Erlösung harren oder sie fast schon erreicht haben, wie ihm der Fremde später erklärt. Auf der fremden Hochzeit tanzt er, darf das aber nur, solange die Musik spielt. Zweimal missachtet er das Gebot. Dann geht er zurück in sein Dorf. Niemand erkennt ihn. In dem Moment, wo man ihn als den verschwundenen Hochzeiter von vor 300 Jahren identifiziert, verfällt er zu Staub.
Das ist eine schaurig-schöne Geschichte, die durch eine spezielle optische Umsetzung in dem Kinosaal eine fast magische Wirkung entfaltet hat. Dazu haben sich er Regisseur Paul Esterhazy und der Videokünstler Friedrich Zorn einer Pepper’s Ghost genannten Technik bedient, bei der sich der Fremde, der nichts anderes ist als das alter ego des Hochzeiters, mittels raffinierte Projektionen virtuell zu ihm gesellt und mit ihm verschmilzt. Er verlässt seine Stube dabei gar nicht. Seinen Reiseweg durch die niederösterreichischen Landschaften sieht man durch die Fenster. Wenn er endlich im Haus des Fremden ankommt, wandelt sich alles in schwarz-weiß, und das ist auch der Moment, wo der eine Tänzerzwilling den anderen ablöst, ganz einfach aber nur deswegen, weil dieser nun grau geschminkt ist.
Die Musik von Klaus Lang bietet zu diesem Panoptikum nicht mehr als ein flächiges Klangbett, in das Sprachfetzen aus dem Märchen eingebettet sind. Sie bietet aber auch nicht weniger, denn die Reise aus der Zeit ist auch eine Traumsequenz. Die meist hohen und sirrenden Klänge entfalten ein harmonisches, obertonreiches, kaum zu ortendes akustisches Bett, dem Klaus Lang rhythmischen Gliederungen vorenthält, selbst dort wo der Hochzeiter seine ungelenken Bauerntanzschritte absolviert. Nur zweimal, wenn er bei dem Fremden ankommt und wenn er wieder zurückkehrt, ballt sich die Musik zu einer katastrophieschen Klangmasse. Das Ganze dauert 90 lange Minuten, nicht viel angesichts der 300 verstrichenen Jahre, sollte man meinen. Allerdings läuft die Hin und Rückreise, bei der die Stationen des Märchens linear abgeschritten werden, sehr vorhersehbar ab.
Was hat das mit Wagner zu tun? Erst einmal nichts, wenn man von den generellen Themen absieht, was Verbote anbelangt - hier das Tanzverbot, im „Lohengrin“ das Frageverbot – oder Raum-Zeit-Konstellationen – hier die Wanderung zum Haus des Fremden, im „Parsifal“ zur Gralsburg. Immerhin ist diese Uraufführung eingebettet in den sogenannten durchaus ambitionierten Diskurs Bayreuth, ein Begleitprogramm zu den Festspielen mit Vorträgen und Konzerten, dieses Jahr zum Thema Verbote (in) der Kunst.


Nordbayerischer Kurier, 25.07.2018

Losgelöst von Raum und Zeit
Oper "Der verschwundene Hochzeiter" uraufgeführt

von Roman Kocholl

Als Einheimischer machte er sich auf den Weg, als Fremder kam er in sein Heimatdorf zurück: der Hochzeiter. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nwarath
BAYREUTH. Ein opernkundiger Bayreuther antwortete neulich auf die Frage, ob er sich die Oper „Der verschwundene Hochzeiter“ in der Kulturbühne Reichshof anschauen werde, mit einer Gegenfrage: Ist das so etwas wie „Hurz“? Nein! Die Antwort mit dem Verweis auf einen Sketch des Komikers Hape Kerkeling verrät zumindest, dass zeitgenössische Musik – in Bayreuth zumal – einen schwereren Stand hat. Der Begriff Uraufführung weckt hier offenbar Assoziationen von Klamauk und Verhohnepiepelung. Was die Frage aufwirft: Wie reagierten die Bayreuther wohl auf die Uraufführung des „Parsifal“ im Jahr 1882? Am Dienstagabend wurde – nachdem die Festspiele keine Einigung mit der Bayerischen Schlösserverwaltung über den ursprünglich geplanten Uraufführungsort Markgräfliches Opernhaus erzielen konnten – die Oper „Der verschwundene Hochzeiter“ im Reichshof uraufgeführt. Dabei ist eines sicher: Es handelt sich hierbei um eine hochseriöse Arbeit, die sich ihrer Rückbindung an die Tradition sehr bewusst ist. Der österreichische Komponist Klaus Lang versucht nicht, das Rad neu zu erfinden. Im Gegenteil: Der grafische Eindruck, den Langs Partitur hinterlässt, ist ein wohlgeordneter. Man entdeckt unterschiedliche Klangschichten, so etwa lang auszuhaltende Akkorde, die mit rasend-schnellen 32stel-Ketten kontrastiert werden. Man findet blockhaft gesetzte Passagen, wie sie – freilich in völlig anderer Harmonik – auch schon Komponisten vor mehr als 300 Jahren geschrieben haben. Und auch dies: Die sechs Szenen des Stücks sind durchkomponiert. Was die Frage nach der Idee der unendlichen, nie abreißenden Melodie aufwirft. Und nach Bezügen zu Richard Wagner.

Querverbindungen zu Richard Wagner
Der Komponist Klaus Lang hatte im Vorfeld der Uraufführung betont, dass sein Werk völlig unabhängig von Wagner zu sehen ist. Das kann man glauben. Muss man aber nicht.
Wer will, kann durchaus versteckte Querverbindungen entdecken. Allein schon der Titel des Stücks, der von einer alten österreichischen Sage stammt, verrät eine Parallele zum Schwanenritter Lohengrin, der ja ebenfalls ein verschwundener Hochzeiter ist. Tatsächlich findet sich in der Partitur in einer Gesangspartie eine Intervallfolge, mit der Richard Wagner die Stelle „Nie sollst Du mich befragen“ vertont hat. Klaus Lang verwendet diese Töne freilich nicht als Leitmotiv. Sie wirken wie beiläufig gesetzt, wie ein versteckter, freundlicher Gruß gen Bayreuths grüne Auen. Schließlich sitzt hier ja der Auftraggeber der Komposition. Der Höreindruck vom Dienstag im Reichshof verdeutlicht, dass der österreichische Komponist eine äußerst klangsinnliche Musik geschrieben hat, die zur inneren Einkehr, zur Meditation einlädt. Theatermusik im herkömmlichen Sinn ist das nicht. Das war aber auch nicht Klaus Langs Intention. Vielmehr ging es ihm um den keinesfalls geringen Anspruch, Raum und Zeit vergessen zu machen. Womit man schon wieder bei Wagner landen könnte, etwa der Verwandlungsmusik im ersten Akt „Parsifal“. Und was läge näher, als bei der blühenden Wiese, über die der Hochzeiter schreitet, die grüne Aue aus dem dritten „Parsifal“-Akt mitzudenken. Klingt so der Karfreitagszauber des 21. Jahrhunderts? Verfremdet, stilisiert, und doch durchzogen von magischer Verführungskraft? Der Unterschied zu Parsifal: Der Hochzeiter wandert über die Wiese auch wieder zurück. So kommt der Zuhörer zweimal in den Genuss von Langs inspirierender Natur-Musik.

Simple Handlung
Man muss es indes nicht übertreiben mit der lokalbezogenen Spurensuche im Werk von Klaus Lang. Die Komposition kann auch für sich alleine bestehen. Und sie lässt jedem Besucher die Chance, sich seine eigene Sicht auf das Stück zurechtzubasteln. Man kann einfach die simple Handlung des Stücks zur Kenntnis nehmen, in dem ein Mann aus seinem Heimatdorf in die Fremde wandert, nach 300 Jahren zurückkommt und sich dann wundert, dass ihn keiner mehr kennt. Er zerfällt zu Staub und Asche. Man kann sich über den lakonischen Charakter der Erzählung wundern, der bei der Aufführung im Reichshof durch eine holzschnittartig-stilisierte Szenerie noch verstärkt wurde.

Kuhglocken
Höchsten Respekt nötigt das hohe Niveau der musikalischen Umsetzung ab. Die Chorsänger und Instrumentalisten – auch eine breite Batterie von Kuhglocken kam wirkungsvoll zum Einsatz – waren seitlich der Zuschauerreihen positioniert. Einen Dirigenten gab es nicht. Die Koordination erfolgte mit Hilfe von Monitoren, die im hinteren Bereich des Saals angebracht waren. So griff bei diesem zeitgenössischen Gesamtkunstwerk, dessen Aufführung man als Erfolg und durchaus als kleine Sensation für Bayreuth verbuchen kann, ein Rädchen ins andere. Viel Beifall vom Uraufführungspublikum für: Paul Esterhazy (Regie), Friedrich Zorn (Video), Pia Janssen, Jiri und Otto Bubenicek (Der Hochzeiter I und II), Alexander Kiechle, Bass, Terry Wey, Countertenor, das Ictus Ensemble, den Chor Cantando Admont und – den Komponisten Klaus Lang.



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orpheus, 11./12.2017
von Herbert Henning

Glanz und Glamour einmal anders

Filigranes Erinnerungsspiel in komödiantischer Regie 
(…) Auf zwei miteinander verwobenen Erzählebenen trifft Opernspiel als musikalische Konversation auf Wirklichkeit mit Handy und TV. Und diese Wirklichkeit ist eine uralte, gebrechliche Feldmarschallin, die sich beim Herumkramen in ihrer Wiener Vorstadtwohnung an ihre Jugend und die leidenschaftliche Liaison mit dem 17-jährigen Octavian erinnert. Und während die vom Pflegedienst Umsorgte in allen drei Akten durch eine starke Bühnenpräsenz überzeugt, erlebt man quasi als wahnhafte Vorstellungen der Greisin das kunstvoll-komödiantische Spiel um das verkreuzte erotische Doppel-Abenteuer des Octavian. Esterhazy lässt die Handlung in Wien 1938, kurz vor dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, spielen. Folgerichtig trägt Octavian, wenn er nicht gerade als ‚Mariandl‘ dem Baron Ochs den Kopf verdreht, Uniform. Und auch sonst dominiert das Outfit jener Zeit die Optik (Kostüme: Ursula Renzenbrink). (…) 

Paul Esterhazy, der selbst auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, hat sich dazu ein raffiniertes, stilvolles Ambiente einfallen lassen, das während der gesamten Zeit in Bewegung ist, von einer Seite zur anderen schwenkt und somit immer neue Blickwinkel eröffnet. Beeindruckend ist die filigrane Personenregie, der Wechsel von der musikalischen Konversation zwischen Marschallin, Octavian, Sophie, den polterhaften Auftritten des Ochs auf Lerchenau mit seinen Kumpanen und den hinreißenden Ensembleszenen beim Lever und in den Spukszenen des 3. Akts. Nicht die Optik sondern das Musikalische machen den Glanz und Glamour dieser ‚Rosenkavalier‘-Inszenierung aus. Die Robert-Schumann-Philharmonie unter dem jungen Dirigenten Felix Bender schwelgt vom ersten Takt an in Walzerseligkeit ohne Sentimentalität. Äußerst ausdifferenziert ist das Parlando, Felix Bender führt das Orchester souverän von graziler, inniger Poesie, musikalischem Poltern bis zur symphonischen Tondichtung. Und er begleitet ein erlesenes Solistenensemble, angeführt von einer ausdrucksvoll singenden und spielenden Maraike Schröter als Feldmarschallin mit strahlendem Sopran und einer betörenden Bühnenpräsenz. Sylvia Rena Ziegler ist der leidenschaftliche Rosenkavalier Octavian mit ungestümem, komödiantischem Spiel und viel Eros in der Stimme. (…) Christian Sist poltert, lärmt, schwadroniert und charmiert mit ‚Schmäh‘ und überzeugt neben seiner stimmlichen Präsenz durch ein hohes Maß an Textverständlichkeit. Einen tiefen Eindruck hinterlässt Isabelle Weh in der stummen Rolle der greisen Feldmarschallin, die sich zwischen Wahn und Wirklichkeit ein Stück Vergangenheit zurückholt.


Freie Presse, 25.10.2017
von Matthias Zwarg

Paul Esterhazys Inszenierung (…) gewinnt dem komödiantischen Erfolgsstück eine feinsinnige, sehr ernste neue Sicht ab.
(…) Dazu bedient er sich zweier Tricks. Der eine wird oft benutzt: Er verlegt die Handlung (…) nach vorn ins Wien des Jahres 1938, kurz vor der Annexion Österreichs durch Nazideutschland. Octavian, der jugendliche Held, eine ‚Hosenrolle‘, also gesungen von einer Frau – finten- und facettenreich Sylvia Rena Ziegler – tritt darüber hinaus oft in Uniform auf und erinnert damit an einen österreichischen Heimatwehrführer, der später unter den Nazis Karriere machen sollte. So bekommt die verworrene Liebesgeschichte einen politischen Akzent, der die Ur-Handlung am Ende in ein etwas anderes Licht stellt.
Die alternde Feldmarschallin, großartig souverän, Maraike Schröter, hat eine kurze Affäre mit dem jungen Octavian, wird aber nach einer Liebesnacht von Baron Ochs – herrlich aufdringlich, unbedacht und unsensibel selbstbewusst Christian Sist – überrascht, der wiederum einen ‚Rosenkavalier‘ sucht, der Sophie, Tochter eines Tierhändlers, nach altem Brauch eine silberne Rose als Zeichen seiner Heiratsabsicht überbringen soll. (…) Als Octavian die Rose überbringt, verliebt er sich selbst in Sophie – ausdrucksstark sich steigernd, von der Oligarchentochter zur karrierebewussten Frau: Elena Gorshunova – die den plumpen Ochs eh‘ nicht leiden mag. Während aller Verwicklungen dreht sich die Bühne beständig und langsam, mal links, mal rechtsherum, schwankt wie der Boden, auf dem die Akteure agieren. Die Oper ist handlungsreich angelegt, sämtliche Sängerinnen und Sänger nehmen dies dankbar an und spielen ihre Rollen im Sinne des Wortes lustvoll und mit Sinn für szenischen Humor.
Dirigent Felix Bender lässt die Robert-Schumann-Philharmonie in großer Besetzung in den beschwingt leichten Passagen ebenso brillieren wie in jenen, die schon auf die beginnende musikalische Moderne hindeuten. Text und Musik harmonieren ausgezeichnet und immer im Dienste der Handlung.
Der zweite besondere Regieeinfall verleiht dem Geschehen eine weitere Dimension: Während der ganzen Oper schlurft Isabelle Weh stumm als sehr alte Marschallin über die Bühne, besichtigt und sortiert ihre Vergangenheit. Ihre wortlose Rolle hat mitunter eine derartige Kraft, dass dahinter die Ränkespiele der anderen verblassen. Wenn am Ende die Marschallin Octavian für Sophie freigibt, hat das durchaus einen bitteren Beigeschmack. Denn es bekommt der aufstrebende Militarist eine junge, karrieristische Frau im strengen, uncoolen Hosenanzug, die durchaus ins Präsidium eines ultrarechten Parteitags passen würde. Die Ähnlichkeit mit Alice Weidel ist nicht von der Hand zu weisen. Und so gestattet auch die Großherzigkeit der Marschallin verschiedene Sichtweisen: Lässt sie die beiden jungen Leute ins Verderben laufen oder bedauert sie gar ihre großherzigkeit, weil sie fehl am platze ist und keinem nützt, sondern am Ende allen schaden wird? Eine feine Inszenierung, die während der gesamten viereinhalb Stunden nie Langeweile aufkommen lässt und auch danach für Gesprächsstoff sorgen kann.


Dresdner Neueste Nachrichten, 17.10.2017
von Boris Gruhl

(…) Was sich nach Hofmannsthals Dichtung im Wien der ersten Jahre der Regierung Maria Theresias im Schlafzimmer der Feldmarschallin, im Palais des Herrn von Faninal oder im Extrazimmer eines Gasthauses abspielt, verlegt Regisseur Paul Esterhazy im eigenen Bühnenbild in die Wohnung seiner alten Marschallin (…). Die Zeitspanne beginnt offensichtlich, wenn Octavian in der braunen Uniform eines Korpsführers der Heimwehrorganisation ‚Junges Vaterland‘ auftritt, nach 1938, dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, und endet in der Gegenwart, Flachbildschirm und Handy, Bedienstete in Arbeitskitteln. (…) Der hier weniger auftrumpfende Herr von Faninal etwa, das könnte in der interessanten Darstellung von Klemens Sander ein gerade noch in den Adelsstand gekommener Jude sein, will durch die Heirat mit jenem Schürzenjäger Ochs wenigstens die Existenz der Tochter sichern. (…)
So überzeugt weitestgehend diese besondere Sicht vor allem durch genaue Führung der Personen, durch stimmig gearbeitete Situationen der Beziehungen. (…) Da kann man mit Christian Sist einen so präsenten wie vorzüglich, durchgehend auch textverständlich, im wienerischen Dialekt singender Ochs erleben. Maraike Schröter überzeugt mit warmer Tongebung als Marschallin, vor allem aber Sylvia Rena Ziegler mit nicht nachlassender Intensität in der höchst anspruchsvollen Partie des Octavian. Elena Gorshunova singt eine stimmlich gereifte Sophie, Regine Sturm ist die gesanglich resolute Leitmetzerin Jungfer Marianne, und Magnus Piontek hat die stimmliche Prägnanz für die Rolle des Polizeikommissärs. (…)
Am Pult der Robert-Schumann-Philharmonie sorgt (…) Felix Bender für einen der Inszenierung angemessenen zügigen Ablauf, keine Sentimentalitäten, dafür Klarheit und auf Durchsichtigkeit ausgerichtetes Musizieren, dem die Mitglieder des Orchesters konzentriert entsprechen. Die Walzerseligkeit wird gezügelt, das Brodeln unter der melancholisch-verklärenden Oberfläche dafür akzentuiert.


Sächsische Zeitung, 11.10.2017
von Jens Daniel Schubert

(…) Musikalisch ist Strauss bei der Robert-Schumann-Philharmonie unter Felix Bender in guten Händen. Die Farben leuchten, und meist sind auch Bühne und Graben gut abgestimmt. Maraike Schröter hat als Feldmarschallin ihre bezauberndsten Momente zu Beginn (…). Sylvia Rena Ziegler ist ein sympathischer Octavian, lebenslustig, doppelsinnig und klangschön (…).
Das betörende Terzett der Damen wird ergänzt durch Elena Gorshunova als Sophie. (…) Christian Sist gibt den Baron Ochs weniger als poltrigen Landadeligen denn als überheblichen Ignoranten unter der Maske des Gentlemans. Er war in Spiel und Gesang, nicht zuletzt wegen seiner guten Textverständlichkeit, einer der Höhepunkte des Abends. Mit herzlichem Applaus dankte das Publikum für eine musikalisch gelungene und szenisch anregende Aufführung.


Online Merker, 08.10.2017
von Joachim Weise

(…)  Insgesamt beherrschte die Bühne (…) ein frohgemutes Treiben, (…) gleichermaßen (…) imponierte beim genauen Hinschauen, mit welcher Akribie der Regisseur manches Detail in den Beziehungen der Figuren ausfeilte und dabei unermüdliche Kleinstarbeit leistete. (…) Einen hübschen Gag bildete die Anlage des Italienischen Sängers, den Valeriy Georgiev als zwerchfellerschütternde Pavarotti-Knallcharge servierte (…). Und als dieser gute Mann im letzten Akt in das Beisl stürzt, um dem Wirt bei der Ankündigung der Feldmarschallin mit einem „C“ auszuhelfen, war der Jubel groß.
In gesanglicher Hinsicht sei ein gediegenes bis gutes Niveau konstatiert. Mit ihrem klangschönen, in allen Lagen ausgewogenen Sopran vermochte Maraike Schröter (Marschallin) ohne Abstriche für sich einzunehmen, eine Leistung, der die die Vorzüge ihres apart timbrierten Mezzos auskostenden Sylvia Rena Ziegler (Octavian) kaum nachstand. (…) Jelena Gorschunowa (Sophie) (…) berührte besonders im Terzett des letzten Akt (…). Einen relativ eleganten, auf poltrige und billige Effekte verzichtenden Ochs führte Christian Sist im auf die ländliche Herkunft der Figur verweisenden Janker vor (…). Von den übrigen Mitwirkenden möchte ich wenigstens die mit einem voluminösen Mezzo aufwartende Alexandra Ionis (Annina) und Magnus Piontek als bassgewaltigen Polizeikommissar erwähnen.
(…) sorgte Felix Bender erneut für eine orchestrale Wiedergabe, die allein schon den Besuch der Aufführung lohnt. Da klang nichts verwischt und übertönt, wurden kammermusikalische Feinheiten bewusst herausgestellt, ohne den Blick auf das Ganze zu verlieren, geriet das Forte an keiner Stelle lärmig, so dass man gern Kurt Pahlens Worte vom ‚klanggewordenen Bild und bildgewordenem Klang‘ bemühen mag.


Morgenpost Chemnitz, 02.10.2017

So bewegt war der Rosenkavalier noch nie
Der Rosenkavalier an der Chemnitzer Oper bewegte das Publikum. (…)
Die Inszenierung von Peter Esterhazy ist alles andere als gewöhnlich: In zwei Zeitlinien erzählt er in rund vier Stunden das Stück. Die alte Feldmarschallin (beeindruckend Isabelle Weh als klapprige Greisin) erinnert sich an ihre Jugend, gleichzeitig agieren die Sänger der eigentlichen Handlung auf der Bühne. Dabei trifft die klassische Oper auf Gegenwart – Flachbildschirm und Handy inklusive. Während der ganzen Zeit ist die Bühne in Bewegung, schwenkt immer von der einen Seite zur anderen, sodass sich neue Blickwinkel ergeben.
Maraike Schröter läuft als junge Feldmarschallin zu Höchstform auf, mädchenhaft leicht mit klarem Sopran und unglaublicher Bühnenpräsenz. Sylvia Rena Ziegler ist der leidenschaftliche Liebhaber Octavian und macht auch in Hosen eine hervorragende Figur. Baron Ochs wird als österreichische Frohnatur gespielt von Christian Sist. Die musikalische Leitung hatte Felix Bender inne, der mit der Robert-Schumann-Philharmonie Großes leistete.

 

TAG24 01.10.2017

Warum sind alle verrückt nach dieser Rose?

Von Victoria Winkel

In der Dreiecksgeschichte geht es darum, dass Octavian, der junge Geliebte der Marschallin für Baron Ochs um die Hand von Sophie anhalten soll. Doch Octavian verliebt sich in das junge Mädchen, was zu einer Reihe von Verwirrungen und Intrigen führt.

Die Inszenierung von Peter Esterhazy ist alles andere als gewöhnlich: In zwei Zeitlinien erzählt er in rund vier Stunden das Stück. Die alte Feldmarschallin (beeindruckend Isabel Weh als klapprige Greisin) erinnert sich an ihre Jugend, gleichzeitig agieren die Sänger der eigentlichen Handlung auf der Bühne. Dabei trifft die klassische Oper auf Gegenwart, Flachbildschirm und Handy inklusive. Während der ganzen Zeit ist die Bühne in Bewegung, schwenkt immer von der einen Seite zur anderen, so dass sich neue Blickwinkel ergeben.

Maraike Schröter läuft als junge Feldmarschallin zu Höchstform auf, mädchenhaft leicht mit klarem Sopran und unglaublicher Bühnenpräsenz. Sylvia Rena Ziegler ist der leidenschaftliche Liebhaber Octavian und macht auch in Hosen eine hervorragende Figur. Baron Ochs wird als österreichische Frohnatur gespielt von Christian Sist.

Die musikalische Leitung hatte Felix Bender inne, der mit der Robert-Schumann-Philharmonie Großes leistete.

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hr2 27.03.2018 Hier können Sie die Besprechung nachhören.

Eine in jeder Hinsicht aufregende, interessante, spannende Aufführung.

Von Robert Kleist

 

HNA 26.03.2018

Hier geht es mit dem Teufel zu

Von Werner Fritsch

Der Operntitel ist kaum zu übersetzen: „The Rake’s Progress“. Die Formulierung „Karriere eines Wüstlings“ trifft es nur bedingt. Und die Oper selbst: Wie soll man das nennen, was Igor Strawinsky vor 70 Jahren auf ein Verslibretto des englischen Dichters W. H. Auden und seines Co-Autors Chester Kallman geschrieben hat? Eine Hommage an die alte Opera buffa? Eine Opernparodie? Ein neoklassizistisches Opernexperiment?
Von allem etwas, könnte man sagen. Dazu eine außergewöhnliche Adaption von bildender Kunst für die Theaterbühne: Denn „The Rake’s Progress“ entstand nach der gleichnamigen Gemäldeserie des britischen Malers William Hogarth von 1733. Ein subtiles, teils skurriles Stück, dessen Libretto und Musik zu den interessantesten Opernschöpfungen des 20. Jahrhunderts zählt. Allerdings eines, auf das man sich einlassen muss. Nicht alle im Publikum fühlten sich bei der Premiere im Kasseler Opernhaus davon angesprochen – nach der Pause waren die Reihen deutlich gelichtet.
So vielgestaltig und anspielungsreich wie die Musik ist auch die Inszenierung von Paul Esterhazy. Die Geschichte vom unaufhaltsamen Abstieg des Tunichtguts Tom Rakewell spielt in einem klassizistischen Raum, der passend von zwei Treppen beherrscht wird (Bühne und Kostüme: Mathis Neidhardt). Der frömmelnde Vater von Toms Verlobter Anne, die unschuldig verliebte junge Frau, der (zunächst) weiß gekleidete Tom – alles deutet auf eine Familienidylle.
Gäbe es da nicht Irritationen: Alle hängen ständig an ihrem Handy. Auch wer der schattenhaft dunkle Mann ist, der Tom unvermittelt eine riesige Erbschaft ankündigt, lässt sich ahnen: Nick Shadow zieht verdächtig einen Fuß nach. Er führt Tom durch eine bunte Szenenfolge als Stationen seines Abstiegs: Ein Londoner Bordell, die Heirat mit der bärtigen Türkenbab, einer Jahrmarkt-Attraktion, die Investition in eine vorgeblich weltrettende Maschine. Bei Esterhazy ist es das Smartphone, dem alle suchtartig verfallen – ein etwas überzogener Ansatz.
Dass die Handlung hinter einem Gazevorhang spielt, vor den die Akteure treten, wenn sie ihre Botschaften ans Publikum richten, verleiht dem Stück Tiefenschärfe. Denn natürlich steckt hinter all der Ironie eine ernsthafte Botschaft, die auf berührende Weise in der Schlussszene zu an Bach gemahnender Musik aufscheint, wenn Anne sich vom wahnsinnig gewordenen Tom, der sich für Adonis und sie für Venus hält, verabschiedet.
Überzeugend als Sängerdarsteller agieren Daniel Jenz, ein stimmstarker Tom mit hoher Präsenz, Elisabeth Bailey mit großer Reinheit als mitfühlende Anne, Marc-Olivier Oetterli als geheimnisvoller, aber auch penetranter Nick sowie Belinda Williams als schrille, bewegliche Türkenbab. Florian Spiess (Vater Trulove), Lona Culmer-Schellbach (Bordellbesitzerin Mother Goose), Johannes An (Auktionator) und Ji Hyung Lee (Wärter) sowie der sehr präsente Opernchor vervollständigen die gute Ensembleleistung.
Igor Strawinsky rekurriert mit seiner Musik auf die Operngeschichte: Das beginnt mit dem Orchester in Mozart-Besetzung, bei dem insbesondere die Bläser solistisch hervortreten. Die Formen der alten Buffa einschließlich Rezitativ werden aufgenommen, es finden sich Anklänge an Händel, Bach, Mozart und Verdi – und doch ist diese hochvirtuose Musik jederzeit eigenständig. Der erste Kapellmeister Alexander Hannemann führt Bühne und Graben gut zusammen, allerdings sind die Temperaturunterschiede im Stück nicht sehr hoch – besondere Spannungsmomente und Pointierungen bleiben die Ausnahme. Die Beifallsbekundungen reichten von höflich bis enthusiastisch.

 

KulturMagazin Kassel 05.2018

Ganz schön heruntergekommen

Von Johannes Mundry

„Ein hoechst erbaulich Melodram von einem, der herunterkam", so kündigte eine Schrifttafel an, was die Besucher nun erwarten würde - ein Versuch, den schwer übersetzbaren Titel von Igor Strawinskys Oper „The Rake's Progress" zu übertragen. Was dann begann, war ein amüsantes, vielfältiges und oft überraschendes Stück Musiktheater.

Worum geht es? Das Libretto, das auf einer Folge von acht Kupferstichen des englischen Malers und Grafikers William Hogarth basiert, entwirft das Leben des Tom Rakewell (Rake = Wüstling), der von einem Mephisto namens Nick Shadow (!) aus der Provinz ins sündige London gelockt wird. Auf dem Land lässt er seine Liebe Anne Trulove (!!) zurück, die, als er nichts mehr von sich hören lässt, nach London aufbricht, ihn findet, ihm aber nicht mehr helfen kann. Nick, der Teufel, reibt sich schon die Hände über die gefangene Seele, doch in letzter Minute gelingt es dem Wüstling, sich seinen Fängen zu entziehen. Einen Fluch allerdings kann Nick noch ausstoßen. Tom wird verrückt, hält sich fürAdonis, landet im lrrenhaus. Anne singt ihm ein letztes Wiegenlied.

Der Regisseur Paul Esterhazy lässt alles in einem Einheitsbühnenbild hinter Gaze ablaufen. Immer wieder tritt eine Person hervor, steht dann allein im Rampenlicht. lm Zentrum sehen wir eine große Treppe, Bild für den bösen, armen, reichen Tom, der „herunterkam". Ein arger Narziss ist er, hat nur noch Augen für sein Mobiltelefon wie die übrige Gesellschaft auch, die nicht mehr miteinander spricht, sondern nur noch über das Gerät. Pervertierte „Kommunikation"! Höchst unterhaltsam ist es, was sich hier abspielt. Immer ist etwas los, man kann sich so richtig am bösen Spiel delektieren - bekommt allerdings am Ende die Quittung als Moral von der Geschicht mit ausgestrecktem Zeigefinger.

Wieder gab es gelungene Sängerleistungen zu beklatschen: Daniel Jenz als Tom gab der Titelfigur Tiefe und viele vokale Facetten, Marc-Olivier Oetterli dem Nick ebenso schillernden Charakter, Belinda Williams als die bärtige Türkenbab aus dem Zirkus konnte ihr Temperamt kaum zügeln und sang vorzüglich. Mit kleinen Abstrichen gab Elisabeth Bailey die brave Anne vom Dorf, die große verdianische „Arie" Ende des ersten Akts gelang ihr gut. Auch die Nebenrollen mit Florian Spiess als Vater Trulove, Lona Culmer-Schellbach als Mother Goose, Johannes An als Auktionator Sellem und Ji Hyung Lee als lrrenhauswärter waren gut besetzt. Der Chor passte sich dem guten Niveau an.

1951 wurde „The Rake's Progress" im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt, zu einer Zeit also, als die „Neue Musik" schon in die zweite bis dritte Generation ging. Der russische Komponist, wandelbar wie ein Chamäleon, hat hier einen Riesenschritt zurück getan, um weiter nach vorne zu gelangen. Das Orchester entspricht dem von Mozarts „Cosi fan tutte", und tatsächlich ist Mozart der große Fixpunkt der Komposition. Wir hören Arien, Duette, Terzette, sogar vom Cembalo begleitete Rezitative. Darüber hinaus lässt Händel grüßen, auch Verdi mit seinem Melodienreichtum, nicht jedoch der Strawinsky der skandalumwitterten Ballettmusik „Le sacre du printemps" von 1913. Für ein Orchester ist „The Rake's Progress" eine echte Herausforderung. Kein Musiker kann sich auch nur eine Sekunde im bequemen Klangbett der Kollegen verstecken. Alles ist durchsichtig, das kleinste Fehlerchen liegt auf dem Silbertablett. Doch Fehlerchen gab es kaum, das Staatsorchester unter der Leitung von Alexander Hannemann war in exquisiter Form. Besonders die Bläser hatten Großes zu leisten, und sie leisteten es ausgezeichnet. Eine echte Freude!

Warum nach der Pause viele Besucher nicht wiederkamen, muss ein Rätsel bleiben. „The Rake's Progress" ist witzige, spritzige Oper von feiner Handschrift. Es muss nicht immer Mozart und Verdi sein. Ist Neugier eine aussterbende Eigenschaft?

 

 

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ganz-oldenburg.de – DAS Stadtmagazin im Internet, 18.09.2017

Brünnhilde in der Fleischerschürze – Wagners „Die Walküre“ feiert glanzvolle Premiere im Oldenburger Staatstheater
von Marlies Folkens

Die „Walküre“ gehört zu meinen absoluten Lieblingsopern, ich gebe es unumwunden zu. Für mich gab es nie eine bessere Inszenierung als die, die Patrice Chereau im „Jahrhundertring“ bei den Bayreuther Festspielen auf die Bühne brachte und die ich Anfang der 80er-Jahre als Fernsehübertragung gesehen habe. Die Latte lag also wirklich sehr hoch und sie ist zu meiner grenzenlosen Überraschung am Samstag im Oldenburgischen Staatstheater gerissen worden. Denn das, was Sänger, Orchester und Regie dem Publikum präsentierten, war schlicht phantastisch!

Während ich im „Rheingold“ noch mit der Idee haderte, die Handlung in der Enge eines Alpendorfs spielen zu lassen, so ging dies Konzept in der „Walküre“ meines Erachtens völlig auf.

Während des Vorspiels ist die „Welt auf der Drehbühne“ noch geschlossen. Blitze zucken und die Silhouetten von Hunden huschen über die hölzernen Wände. Siegmund kriecht auf allen Vieren herein, über dem Kopf ein Wolfsfell, und rettet sich in die einzige offene Tür, um sich vor seien Feinden zu verstecken. Auch Sieglinde tritt auf allen Vieren auf, schnuppert wie ein Tier an der Schwelle, über die Siegmund gerade hereingekommen ist. Beide stehen erst dann zum ersten Mal auf, wenn im Orchester das Motiv ihrer Liebe zu hören ist. Erst dann werden sie zu Menschen …

Es sind diese kleinen Details, die das Regiekonzept tragen und so unglaublich spannend machen. Dabei überträgt der Regisseur Paul Esterhazy Bildmotive, die er schon im „Rheingold“ verwendet hat, als Klammer in die „Walküre“. Die bärtige Frau aus dem „Rheingold“, die sich am Schluss als Mutter des Zwillingspaars Siegmund und Sieglinde herausstellt, schnuppert immer wieder an einem Käfig mit Kanarienvögeln, der an der Wand der Stube hängt. Dieser Käfig ist auch in der „Walküre“ präsent und wird von Sieglinde, die einen deutlichen Flaum auf den Wangen trägt, überall hin mitgeschleppt. Ich gehe jede Wette ein, dass diese Vögel im zweiten Akt Siegfried noch eine gewichtige Rolle spielen werden. (Wobei sie sich auch hier schon gelegentlich in piano-Momenten trillernd bemerkbar machten – zum leisen Amüsement der Zuschauer)

Überhaupt: Es gibt reihenweise starke Bilder!
Bei den „Wälse“-Rufen würgt Siegmund das Wolfsfell, dass er als Mantel bzw. Tarnung getragen hat.
Das verzweifelt liebende Zwillingspaar fällt auf dem Ehebett übereinander her, in dem Hunding seinen Rausch ausschläft. Brünnhilde und ihre Schwestern tragen Schlachterschürzen und flicken die Leichen der Gefallenen wieder zu Helden zusammen. (Und sollte ein Held noch nicht so ganz tot sein, wird eben etwas nachgeholfen.)
Wotan übergibt das Erbe der Welt an Alberichs Sohn mit einem erhobenen Stinkefinger.
Das Erstaunlichste aber war für mich die Umsetzung der „Todesverkündung“ im zweiten Akt. Mit den langen Monologen, in denen die Vorgeschichte noch einmal durchgekaut wird, hat so mancher Regisseur seine Umsetzungsprobleme. Hier aber macht die Drehbühne möglich, zu sehen, was gesungen wird. Es ist eine Traumsequenz, in der Brünnhilde Siegmund zeigt, was nach seinem Tod auf ihn wartet: Die Bühne schwenkt von der noch schlafenden Sieglinde zu Wotan, der in der Stube neben dem Herd am Tisch sitzt, dann, als es um die Wunschmädchen in Walhall geht, dreht die Bühne weiter zum Schlafzimmer – alles in einem unirdischen Licht verfremdet. Doch Siegmund will keine himmlischen Wonnen, er will nur bei Sieglinde bleiben. Die Bühne schwenkt zurück zu ihr und alles wird dunkel.

Mir bleibt da nichts zu sagen als: genial gemacht!

Die vielen, vielen anderen Regiehighlights zu besprechen, würde den Rahmen dieser Kritik sprengen - ich könnte noch seitenweise weiterschreiben. Stattdessen möchte ich jedem Wagnerfreund ans Herz legen, selbst in eine der wenigen Vorstellungen zu gehen.

Auch musikalisch war der Abend ein Genuss der absoluten Spitzenklasse. Wagner muss gar nicht laut sein, um zu wirken. Im Gegenteil! Durch die reduzierte Orchesterfassung von Lessing ergibt sich eine Transparenz und Leichtigkeit, die jeden möglichen Bombast im Keim erstickt. Das Vorspiel zum ersten Akt ist wirklich eine gehetzte Flucht durch den Wald, und die Walküren reiten auf wendigen Arabern und nicht – wie oft gehört – auf stämmigen Brauereizossen. Keiner der Sänger wurde vom Orchester zugedeckt, keiner musste brüllen, um sich Gehör zu verschaffen. Jedes Piano, jeder lyrische Moment war deutlich zu vernehmen. Was für eine Freude!

Bei der Auswahl der Sängerdarsteller hatte das Oldenburgische Staatstheater ein goldenes Händchen. Allen voran ist Nancy Weißbach zu nennen, die hier ihr Debüt als Walküren-Brünnhilde gab. Ihr gelang einfach alles mit ihrem wunderbar runden, jugendlich-dramatischem Sopran – von den Spitzentönen des Hojotoho bis zur Mezzolage der Selbstanklage im dritten Akt.

Michael Kupfer-Radecky näherte sich dem Wotan von der Baritonseite, edel im Timbre, mitreißend im Ausdruck. Es war eine Freude, seinem langen Monolog im zweiten Akt zuzuhören. Das ist wahrlich nicht bei jedem Wotan der Fall.

Zoltán Nyári gewann dem Siegmund viele lyrische Seiten ab, wodurch die dramatischen Ausbrüche der Wälserufe umso wirkungsvoller wurden. Nadja Stefanos dramatischer Sopran gab Sieglinde Ausdruck und Leidenschaft. Pavel Shmulevichs schwarzer Bass unterstrich die unterschwellige Brutalität der Figur. Melanie Lang gewann der Fricka mehr tragische als rachsüchtige Seiten ab. Last but not least vermochten die acht Walküren sowohl solistisch wie auch im Ensemble voll zu überzeugen: Martyna Cymerman, Sooyeon Lee, Marija Jokovic, Annekatrin Kupke, Sarah Tuttle, Yulia Sokolik, Zdravka Ambric und Hagar Sharvit.

Das Publikum bedankte sich bei Sängern, Orchester und dem Regieteam mit langanhaltendem, begeistertem Applaus und Bravorufen und wurde nicht müde, die Darsteller und das Orchester wieder und wieder auf die Bühne zu rufen.